Busfahrt
Im Unterstand an der Bushaltestelle bin ich der einzige Wartende. Von Kamppi kommend wältz sich ein Wurm aus Autoscheinwerfern den Matsch die Topeliuksenkatu herunter. Es ist immer noch dunkel. Es ist seit Anfang Dezember dunkel und wahrscheinlich wird es vor März nicht richtig Tag.
Im Winter legt die Schwerkraft in Helsinki drei Zehntelpunkte zu, das Magnetfeld über Finnland lädt sich negativ auf, schickt das Sonnenlicht noch oberhalb der Ozonschicht ins Weltall zurück. Die Straßen lassen die Unterlippen hängen und tippen sie gelangweilt mit ihren Zeigefingern an: Bl–bl–bl, so geht das. Nieselregen fällt träge, Dreck hebt sich unwillig vom Asphalt wenn ein übellauniger Autoreifen ihn verdrängt, Kleinkinder watscheln an den Händen apathischer Mütter vorbei, starren zu Boden und durchdenken Selbstmordszenarien.
Die Welt und alle ihre Lebewesen sind mit Griesgrämigkeit überzogen und lassen mich in Ruhe.
Mein Telefon zittert in der Manteltasche. Doch keine Ruhe. Riikka schickt eine SMS. Sie hat es sich überlegt und glaubt wir passen nicht zusammen. Ja, das war vom ersten Augenblick an klar – darum ging es nie. Ich soll ihre Nummer löschen und sie vergessen. Klar, mach ich – nächstes Jahr, wenn du dich bis dahin nicht mehr gemeldet hast. Sie fand es schön und unkompliziert mit mir. Ich fand es geil aber jenseits des Geschlechtsverkehrs unzureichend mit ihr. Sie wünscht mir alles Gute. Ich antworte ihr, dass sie sich jederzeit wieder bei mir melden kann und sie das auch tun wird. Wird sie auch wenn sie das nächste Mal lusthungernd durch die Kneipen taumelt. Es geht mir nicht darum sie zu verletzen, aber Morgens bin ich zu schwach um schon verlogen zu sein.
Auf der Frontseite eines Busses wird die traurig–gelbe 39 sichtbar, auf die ich warte ich. Ich geh in den Regen, heb die Hand und der Fahrer setzt den Blinker. Beim Einsteigen liest ein schwarzes Kästchen meine Fahrkarte, biept wimmernd auf und gewährt mir so Zutritt zum öffentlichen Verkehr. Ob uns nun Blut oder Strom antreibt, wir kämpfen alle ums Überleben.
In einer der mittleren Reihen sitzt ein Häschen: groß, nicht älter als dreißig Jahre, glattes langes blondes Haar. Aus ihrem Gesicht strahlt ein Lux mehr Intelligenz als aus denen der anderen Frauen ihres Alters und macht es mir unmöglich an ihr vorbeizugehen. Also setze ich mich, so zufällig wie möglich, in die gleiche Reihe auf die andere Seite des Busses. Um das Theater nicht allzu auffällig zu gestalten ziehe ich mir den "Bitte nicht stören" Gesicht über und lasse meine Augen durch den verschlafenen Bus trotten, der gerade anfährt.
Der Alte, der zwei Reihen vor ihr sitzt, ist so abgewetzt wie der ganze Tag. Den Arm lässig über die Lehne des Nachbarsitzes gelegt blickt er aus dem gegenüberliegenden Fenster. Die dunkelbraunen, mit Dreck durchwirkten Finger hat er leicht erhoben, so als würden sie im nächsten Augenblick den Einsatz für ein Kammerorchester geben. Das dünne, weisse Haar wächst aus seiner Pelzmütze über Stirn und Ohren in das aufgeschwemmte Gesicht hinein, in dem Bartstoppeln von der gleichen Farbe wildwuchern und nur vor den schweren Festungswällen seiner Augenringe halt machten. Der Dreck, den er an Körper und Kleidung mit sicht trägt, die graugrünen Bezüge der Sitze, der zu Matsch verkommende Schnee hinter den Busfenstern sind der Hintergrund, auf dem er sein Lächeln setzt. Kein dummes Unschuldslächeln, das alte Männer an Ostern beim Betrachten der Enkel aufsetzen. Ein sattes Lächeln, hart an der Grenze von Überheblichkeit und Menschenverachtung. Mehr ein Lächeln, das den Reisenden in Richtung Büroalltag ins Gesicht spuckt.
Für derartige Gedanken hat die Schöne neben mir keinen Eingang in ihrem Kopf. Sie kramt in einem Schminktäschchen, holt ein Spielzeug aus den Zeiten der spanischen Inquisition daraus hervor und setzt es sich an die Wimpern. Dem Schreckensding bin ich auch bei Petra begegnet. Damals durfte ich am Eingang zu ihrem Badezimmer lehnen und ihr leise atmend beim Schminken zusehen, ihre Bewegungen beobachten, ihren lächelnden Seitenblick , den sie mir durch den Spiegel zuwarf wenn sie zwischen dem Wechsel der Utensilien kurz ihren Gesamteindruck nachprüfte und sich herrisch die schwarzen Haare aus dem Gesicht strich. Das ist schon etwas länger her als Vorgestern, brennt aber immer noch wie Jod. Wie kann es dieses namen– wie geistlose Geschöpf neben mir wagen mit ihrer Wimpernklammer meine pastellfarbene Erinnerung zusammenzupressen bis diese aufschreit, wie kann sie eines der großen weiblichen Geheimnisse mit ihrer eiligen Alltäglichkeit besudeln, die ihr vormacht sie müsse sich ihrem Chef noch aufreizender präsentieren als sie sich eh schon aufgepeppelt hat.
Der Alte steht langsam auf und stellt sich vor die Tür. Auf der Höhe seines Gesäßes hängt Sägemehl an seinem Mantel. Wo hat er das nur aufgetrieben? Der Bus hält, die Tür geht auf, er steigt aus und mit ihm geht der letzte Funke Würde.
Als wir wieder anfahren steckt meine Nachbarin ihr Werkzeug weg und versucht recht gescheit aus ihrem beigen Mäntelchen zu schauen. Die Leuchtkraft ihrer vermeintlichen Intelligenz hat sie radikal heruntergedimmt. Trotzdem seh ich immer wieder zu ihr hinüber. Irgendwas an ihr macht mich wütend und die Wut macht mich geil – ich spür Kohlensäure durch meinen Körper blubbern. Meine Hose schrumpft um zwei Talliennummern. Blödes Weib, wärst du nur ausgestiegen. Jetzt muss ich mich wegen dir wieder mit mir selbst herumschlagen und versuchen auf den Boden zurückzukommen. Ich schaue aus dem Fenster. Nur kurz, dann wieder zu ihr. Sie nimmt eine Zeitung, schlägt sie auf – die Titelseite zeigt die finnische Präsidentin und ich tu so, als gäbe mir der Artikel Grund genug um über den Gang zu spechten wie ein Rüde, der sich aus dem natürlichsten Grund der Welt an der kurzgehaltenen Leine selbst erdrosselt.
Bitte, ich will nicht so sein. Es geht hier um mein Seelenheil, das gerade von meine Augen und Hormonen leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird. Bitte bitte, lass sie aussteigen, lass den Bus schneller fahren, lass meine Haltestelle kommen, lass mich endlich vernünftig werden, nimm von mir das Erbe meiner tierischen Vorfahren, die bedinungslose Hingabe an das Vermehrungsprogramm. Erinner mich daran, dass ich nach dem Aufwachen onaniere. Und mach, dass mein Ständer nicht so schmerzt. Gib mir Potenzprobleme. Zumindest einmal am Tag. Einmal die Woche reicht auch schon. Oder lass sie einfach rüberlächeln und mich fragen, ob ich sie irgendwo zwischen hier und Endstation in eine dunkle Häuserecke ziehen und mein räudiges Verlangen an ihr befriedigen will.
Ich zwing mich wegzusehen. Der Bus steht vor der Ampel zur Vihdintie, bald sind wir in Pitajamäki, wo ich aussteigen darf – muss – soll. Scheisse! Während der letzten beiden Wochen bin ich kaum aus meinen 42 Quadratmetern rausgekommen, habe Bücher gelesen, Filme gesehen, pubertäre Musik gehört und mich von Pizza, Spiegeleiern und Käsebroten ernährt. Alles war ruhig geworden in mir. Kleinere Begehrensausbrüche hatte meine rechte Hand problemlos in Zaum gehalten und Riikkas kurzer Besuch brachte einen ausreichenden Vorrat menschlicher Wärme unter die Bettdecke. Und jetzt, lediglich mit der Realität öffentlicher Verkehrsmittel konfrontiert, krache ich wieder im untersten Kellergeschoss der Evolution auf.
Jetzt legt sie die Zeitung weg, nimmt ihr Handtäschchen auf den Schooß und drückt mit dem Daumen der rechten Hand den roten Knopf, der dem Busfahrer den Wunsch übermittelt, an der nächsten Haltestelle anzuhalten. Die Station vor dem Kreisverkehr, die immer noch nicht meine ist, kommt näher. Sie steht auf und wendet ihren Kopf zu mir.
Wir sehen uns an. Ihre Augen versuchen in meine zu dringen und ich weiß, dass ich ihr keine Chance geben darf, sonst gewinnt sie diesen Kampf. Meine Mundwinkel dürfen nicht zucken. Meine Nase darf nicht beben. Die Hände sich nicht bewegen. Die Lider nicht flackern, aber auch nicht endlos offen bleiben. Ich weiß, dass ich es nicht kontrollieren kann – es ist zuviel für ein Bewusstsein. Mein Blick rastet in ihren ein. Sie hält sich an der blauen Stange fest. Ich bin unsicher – durch meine Adern stürzt die Unruhe wie ein Wasserfall. Der Filmstreifen, durch den der Bus fährt und der sich links und rechts wie ein Tunnel an den Fenstern als Landschaft vorbeischiebt, wird langsamer. Sie blinzelt – einen Augenblick zu früh, das wissen wir beide als sie es tut. Ihren Kopf zur Seite drehend macht sie einen Schritt auf die Tür zu und sieht dann nochmal aus den Augenwinkeln zu mir. Sie gesteht mir den Sieg zu und ich ergreife ihn, stehe auf und steig mit ihr aus.
Draussen sage ich ihr, dass sie Sägemehl an ihrem Mantel hat. Genau wie der Alte. Woher das stammt weiß sie nicht. Es nieselt. Sie lacht und wischt eilig über ihren beige bedeckten Hintern. Der Tag hängt grau unter der schweren Wolkendecke. Wir sehen uns wieder an. Da drüben ist ein Cafe. Kein schönes, aber ein Cafe. Die Luft ist kühl und schmeckt gut. Sie nickt. So beginnt es.