to go
Die Tankstelle haben sie vor zwei Jahren gebaut. Sie steht gleich neben der Autobahnausfahrt und ist so ein riesengroßes, blau strahlendes Wunderding aus Glas und Einkaufsmöglichkeiten, das 24 Stunden offen hat. Es ist zwei Uhr Nachts, der Herbst hängt in den Bäumen und die Scheibenwischer streichen im langsamen Intervall die Nieselregentropfen von der Windschutzscheibe. Ich kann jetzt nicht nach Hause, obwohl ich seit Stunden auf dem Weg dorthin bin.
Also fahr ich nicht auf die Bundesstraße, kreuze sie nur und stell den Mietwagen auf den kleinen Parkplatz. Die Eingangstür ist aus schlierenfreiem Glas, gleitet zischend zur Seite und lässt mich ein ins Schlaraffenland.
Hinter der Theke steht ein fetter Kerl mit Schnauzbart und dreckigem T–Shirt. Ich kauf ihm trotzdem einen Kaffee ab, den er mir sogar aus einer Kanne einschüttet. Andernorts gibts so was nur noch aus der Maschine. Hier, so kurz vor den Alpen, hat man sich scheinbar ein bisschen Stil bewahrt, inmitten der unbegrenzten Konsummöglichkeiten.
"To go?" fragt der Schnauzbart und ich schüttel den Kopf, leg nen Schein auf die Theke und deute ihm, dass es so passt. Jetzt bitte kein Kleingeld. Keine Kleinigkeiten. Ich glaube, Kleingeld könnte mich jetzt unter die Erde bringen.
Sie sitzt an der Theke, die viel zu lang ist für uns beide, rührt in ihrem Kaffeebecher. Älter als dreißig ist sie sicher nicht. Dunkler langer Rock, schwarze Strumpfhose darunter, schwarze, gefütterte Stiefel und obenrum ein schwarzer Pulli und ne Lederjacke. Vielleicht würde sie mich interessieren, wenn mich grad irgendwas interessieren würde. Ich setz mich und schau den Zigarettenschachteln dabei zu, wie sie versuchen sich gegenseitige aus dem Regal zu drängen. Es gibt hier alle Marken und noch ein paar mehr.
"Wo fährst Du hin?" Ihre Stimme ist tiefer als ich vermutet hatte.
"Tegernsee" sage ich und schütte Milch in den Kaffee.
"Kannst mich bis Gmund mitnehmen?"
Ich schau weiter auf die Zigarettenschachteln, weiß, dass ich jetzt auch nicht mehr mit dem Rauchen anzufangen brauche und nicke. Sie hält ihren Mund, ich den meinen, wir trinken beide Kaffee.
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"Es gibt gar keinen Weg, den man gehen muss. Wo soll der denn rumliegen? Das ist doch alles lauwarmes Gerede. Und hier Gott und dort die Sterne und Planeten, ein vorgezeichnetes Schicksal, ein sich aufsammelndes Karma, schamanistische Schwitzhütten, tibetanische Mönchsklöster und überall Erleuchtungserfahrungen. Cocablätter zutzeln und recht spirituell um einen Zweimeterkaktus rumhüpfen. Das ist doch demütigend."
Seit sie ins Auto gestiegen ist, redet sie. Sie sieht durch die Windschutzscheibe auf die nasse Motorhaube und redet auf mich, das Auto und die Straße ein. Ich weiß nicht, wer sie ist, sie wurde in der Tankstelle geboren und ich hab sie adoptiert.
"Auf die Stories fällt doch kein Kleinkind mehr rein. Aber mit 40, wenn man begreift, dass man bald bestenfalls noch als Dünger dient, da fangen sie dann an, das Daleilamagesäusel für voll zu nehmen. Wir sind ja alle eigentlich gut und schön – innendrin. Was sind wir? Eine biochemische Misere, eine Anhäufung von Neurosen und von zum Scheitern verurteilter Hoffnungen – das sind wir. Dieses Gewäsch von Sinn und Bestimmung, das brauchen die doch nur, weil sich nicht trauen, eine wirklich gute Zeit zu haben. Eine, die auch mal aufhört. Endgültig aufhört."
Die Bundesstraße ist mit einem nassen Schmierfilm überzogen – der Belag ist neu und tiefschwarz. Dazu kommt die Neumondnacht, in der das Scheinwerferlicht versickert, ehe es den Straßenrand erreicht.
"Die nächsten reden die ganze Zeit von der Aktivierung der zweiten Gehirnhälfte und kriegen nicht mal die erste zum Laufen. Selbstverwirklichung, Kreativität und kosmische Energie. Kannst Du Dir die Typen vorstellen, die solche Begriffe in die Welt setzen? Die nehmen schräge Worte in den Mund um eine große Menge Verwirrung anzurichten. Jedes Wort riecht bei denen schon nach zweimal Draufrumkauen nach Sinn. Sinn des Lebens. Sinn der Welt. Ihr seid für etwas gut. Ihr seid für etwas da."
Ihr langes schwarzes Haar hängt ihr die ganze Zeit ins Gesicht, mit der linken Hand fuchtelt sie im Takt ihrer endlosen Sätze umher und mit der rechten zieht sie auf Brusthöhe immer wieder am Sicherheitsgurt, so als würde sie mit seiner Hilfe die Wut aus sich herauspumpen. Sie hat ne Scheisswut, in die sie mich mitreisst, so sehr, dass ich nicht anders kann, als ihr zuzuhören.
"Dann kommen diese Flittchen, die den ganzen Tag nichts anderes als Diät und Karriere im Kopf haben. Die reden doch tatsächlich davon, dass man nur an sich glauben müsse, um etwas zu erreichen. Was wollen die eigentlichen? Sitzen in ihren Einbauküchenwohnungen und alles was ihnen noch zum Glück fehlt ist ne Feng Shui Freundin, die ihnen jährlich einmal vorsingt, dass ihre Möbel zu billig sind. Wenn so eine davon redet, dass man etwas glauben muss, dann hat sie nur eins erreicht: zu vergessen, dass sie bereits am Ende der Leiter steht, da, wos eh nichts mehr zu wollen gibt."
In den Pausen, die sie sich kaum zwischen den Sätzen gönnt, zieht sie tief die Luft in sich ein, die sie für die nächste Wortsalve benötigt. Dabei ist nichts an ihr laut, sie wird nicht schrill, wirkt nicht überdreht. Draussen sind Regen und Nacht und was immer der Tag zu bieten hat, das zerlegt sie hier, bis ich dran zweifle, ob die Sonne nochmal aufgeht.
"Hey und dann die ganze Altweiberpisse über Männer! Als gäbs die nicht schon seit den Affen die Haare ausgefallen sind. Ich kanns nicht mehr hören: Er hat mich betrogen, er fickt mich nur noch im Dunkeln, nur noch von hinten, nur noch zwischen Nachrichten und Sportschau. Diese lebensversicherungshungrigen Spießerfotzen, dieses Pack, das unfähig ist, sich selbst ein halbes Jahr durch den Dreck zu ziehen! Haben die noch nicht gerafft, dass ihr Beschwanzten alle so seid? Was braucht die Tuss denn einen Mann, wenn sie dann nicht damit zurechtkommt, wenn er plötzlich tatsächlich einer ist?"
Sie löst ihren Blick von der Straße und sieht zu mir rüber. Fast bin ich versucht, ihr in die Augen zu sehen, aber ich muss mich aufs Fahren konzentrieren.
"Und die Allerschönsten sind die Fatalisten. Diese ich–bin–kein–Weichei–und–alles–unterliegt–der–sich–selbst–regulierenden–Macht–des–Marktes Typen. Das sind die neuen Faschisten. Anstatt wirklich an nichts zu glauben, glauben die doch nur, dass ihnen alles erlaubt ist, weil sie sich nirgends rechtfertigen müssen."
Wir sind irgendwo auf einer leeren Bundesstraße. Inzwischen schüttet es und der Scheibenwischer jagt unmutig im Auftrag der klaren Sicht über das Glas. Sie schweigt eine Weile und ich starre dem Regen entgegen.
"Was bleibt denn dann noch?" frage ich, kurz vor der Kurve, die uns in den Wald führt. Die ersten Bäume strecken sich in den Regen. Sie sagt leise "Fahr da raus!" und ich setz vorschriftsmäßig den Blinker und lass den Wagen auf einem Waldweg zum Stillstand kommen.
Sie schnallt sich ab, öffnet die Beifahrertür, lässt Dreck aufspritzen und rennt davon. Das alles ist eine Bewegung und ich handle nicht mehr selbst, ich gehör zu ihrer Bewegung und laufe ihr hinterher. Mir ist, weit hinten, bewusst, dass ich geil bin – aber es fragt nichts mehr, weshalb das so ist.
Der Regen ist eisig und kühlt die Dunkelheit doch nicht ab. Irgendwo zwischen den Bäumen muss sie sein, ganz in Schwarz, gerade weit genug weg um mich zu verlaufen. Vorher war da noch ein Weg, ein Wagen, ein Wald – jetzt gibt es nur noch keinen Rückweg.
Sie steht da, als wollte sie mich anspringen. Das Zeug, das sie anhat klebt ihr durchweicht am Körper und das Zeug, das sie vorhin gesagt hat, lässt sie noch immer vor Wut und Erregung zittern. Mein Schwanz beschimpft sie in einer Sprache, derer ich nicht mächtig bin. Ich geh auf sie zu, pack sie mit der Rechten am Hals. Ihr Haar tropft Sturzbäche. Ihre Augen sind immer noch nicht bereit zu antworten.
Die Linke geht unter ihren Rock und zerrt an der Strumpfhose, die sich zäh von ihrer Haut schält. "Ein Stück Wirklichkeit" denke ich, sage ich und steck ihr meinen Daumen rein, ohne zu wissen woher der Satz kommt. Sie windet sich nicht, atmet nur lauter als der Regen und öffnet meine Hose, packt meinen Schwanz.
"Dann halt Dich dran fest," sagt sie und meine Hand spürt jedes ihrer Worte, wie es sich ihr aus dem Hals schiebt: "wenn Dus kannst."
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Es ist noch immer Nacht und Regen. Ich komme zu Hause an ohne es zu erreichen. In Wirklichkeit steh ich nur im Wald, schon die ganze Zeit und das hat keine tiefere Bedeutung.