Näherungen – Geburt

perhaps this yarn is the only thing
that holds this man together
some say that he was never here at all
Tom Waits / Swordfishtrombone

Manchmal, wenn ich versuche mir vorzustellen, wie es sich damals zugetragen haben könnte, sehe ich Nicolas Bourbaki die nächtliche Promenade des Donaukanals entlang gehen. Zuerst ist er nur eine Bewegung die aus dem Fluss in die Dunkelheit überzugehen scheint, doch als er die Stufen zur Rossauer Lände hinaufsteigt, kann ich seine Gestalt erkennen. Er ist groß und es sieht so aus, als wüsste er sehr genau, wohin er will. Ich bleibe hinter ihm, sehe nur seinen Rücken und als er in die Grünentorgasse einbiegt hole ich auf und verschmelze mit ihm – wie man das nur in Träumen kann. Er ist mir jetzt noch immer fremd, aber ich fühle seinen Körper und sehe mit seinen Augen. Er erzählt mir seine Geschichte während sie geschieht.

An der Servitenkirche vorbei geht er hoch zur Porzellangasse und hält an einem gelben Eckhaus vor dem junge Leute auf der Straße herumstehen. Sie lachen, trinken Bier und Wein, rauchen und reden durcheinander. Niemand fragt ihn, wer er ist, als in das Studentenwohnheim geht – wahrscheinlich hält man ihn für einen leutseligen Professor oder einen etwas zu alt geratenen Kommilitonen aus den höheren Semestern. Die meisten stellen gar keine Vermutungen über ihn an. An diesem ersten lauen Abend des Jahres ist jeder eingeladen, egal ob und was er studiert oder woher er kommt.

Drinnen, in einem für die Feier umfunktionierten, viel zu kleinen Gemeinschaftsraum, läuft eine Heavy-Metal-Ballade. Das Gerede der Studenten ist hier noch lauter als draußen und übertönt die E-Gitarren. Er lässt sich ein Glas Weißwein an der provisorischen Bar geben und zwängt sich dann an Gesprächen und Körpern vorbei bis zur andere Seite des Raumes. Gegen die Wand gelehnt lässt er die Zeit vergehen und sieht sich um.

Es dauert beinahe zwei langsam getrunkene Achtel bis doch noch etwas gespielt wird, was Bourbaki gefällt. Als schließlich Tom Waits singt, sieht er sie in einer Ecke am Boden sitzen.

Er geht zu ihr, stellt sich vor sie hin und spricht sie an. Was er sagt, verstehe ich nicht. Was sie antwortet genauso wenig – sie ist betrunken, ihre Lippen und Zähne dunkel vom Rotwein, ihre Stimme lallt hilflos an den Worten entlang, die sie sagen möchte und hinterlässt nichts, was einen Sinn ergibt. Aber das macht nichts, es geht bei diesem Gespräch nicht um Worte.

Sein Weinglas ist noch nicht ganz leer, als er es auf einem Stuhl abstellt, ihr auf die Beine hilft und sie in die oberen Stockwerke, in eines der freien Wohnheimzimmer dirigiert. Bald darauf ist er wieder verschwunden und sie liegt schlafend und mit einem Lächeln auf dem Bett.

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Vielleicht war es so.

Als mir meine Mutter zum ersten Mal gestand, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnte, was sich damals zugetragen hatte, habe ich monatelang jeden erwachsenen Mann, der mir auf der Straße oder anderswo begegnete, verdächtigt, mein Vater zu sein. Nach ein paar Tagen oder Wochen gefiel es mir, dass ich eine so große Auswahl hatte, dass ich mir aus allen Gesichtern und Gestalten, Verhaltensweisen und Kleidungsstilen ständig neue Väter zusammenstellen konnte. Wer hatte schon die Freiheit, sich die Umstände seiner Zeugung und zumindest eine der dabei beteiligten Personen selbst ausmalen zu können, ohne dabei Gefahr zu laufen, von der Wirklichkeit korrigiert zu werden?

Der Unbekannte, der den Donaukanal entlang ging, ist von allen sich bietenden Möglichkeiten eine der unwahrscheinlichsten, das ist mir bewusst. Dennoch gefällt mir der Gedanke, dass mein Vater in dieser Nacht wie eine Absicht aus dem Dunkel des Kanals aufgestiegen und durch die Straßen Wiens zu meiner Mutter gekommen ist, um mich zu einem guten Stück Musik in die Welt zu setzen. Eine andere Rolle hat er in meinem Leben nie gespielt.

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Nach ihrem Schulabschluss hatte meine Mutter in drei leidvollen Jahren eine Bankausbildung hinter sich gebracht und wusste anschließend, dass sie nicht nur für jede kaufmännische Tätigkeit ungeeignet war, sondern auch, dass sie Fragen beschäftigen, die ihr weder das Handelsgesetzbuch noch die doppelte Buchführung beantworten konnten. Sie verließ ihr oberösterreichisches Heimatdorf und schrieb sich an der Technischen Universität Wien im Fach Physik ein, was sie ein halbes Jahr später bereits wieder bereute.

In ihren Augen waren die Physiker nur extravagant ausgestattete Mammutjäger, die, anstatt mit einem Speer bewaffnet, nunmehr mittels der Mathematik auf die Dinge der Welt losgingen. Ihre Enttäuschung wurde mit jeder Lektion in Mechanik, Thermodynamik und Kernphysik größer – ständig ging es um Gegenstände, um Gase, Elementarteilchen und kosmische Staubwolken, anscheinend konnten ihre Professoren und Kommilitonen über nichts sprechen, was nicht eine Form, eine Farbe oder zumindest eine Eigenschaft besaß, die auf irgendeiner Skala einen Zeiger zum ausschlagen brachte.

Sie löste Differenzialgleichungen und integrierte sich durch verworrene Wirklichkeitsmodelle, aber niemand im Vorlesungssaal schien bereit, die Dinge der stofflichen Welt vom Tisch zu wischen und einen Blick auf die Tatsachen zu werfen, die in ihren Augen eben nicht die messbaren Objekte und Kräfte waren, um die die Naturwissenschaften so ein Gewese machten, sondern die mathematischen Gesetze, nach denen offensichtlich alles funktionierte.

Nachdem sie im dritten Semester die Vorlesungen immer wieder gestört und den Professoren Schlampigkeit bei der Herleitung von Formeln nachgewiesen hatte, wurde sie zum Dekan des Fachbereichs gerufen und hatte mit ihm ein längeres Gespräch, in dem er ihr nahe legte das Studienfach zu wechseln und doch Mathematik zu belegen, ihre Fähigkeiten in diesem Bereich seien so herausragend, dass sie diese nicht an die Physik verschwenden sollte.

Sie verstand, dass man sie nicht haben wollte und obwohl sie selbst bereits seit Monaten mit dem Gedanken gespielt hatte, das Fach zu wechseln, machte sie der freundlich vorgebrachte Rauswurf doch wütend. Noch am gleichen Nachmittag ging sie ins Hauptgebäude der Universität Wien, schrieb sich dort für Mathematik ein und als das ihre Stimmung nur geringfügig verbesserte, folgte sie der Einladung einer Freundin auf eine Party, wo sie gegen ihre Gewohnheit beschloss, ihren Ärger mit Rotwein zu verdünnen. Am nächsten Tag wachte sie in einem fremden Bett im Studentenwohnheim auf und konnte sich an nichts erinnern, was am Abend zuvor nach dem zweiten Glas Rotwein vorgefallen war.

In den darauffolgenden Sommermonaten stürzte sie sich mit aller Wut, die die Naturwissenschaften in ihr heraufbeschworen hatten, in das neue Studium. Neugierig nahm sie den Abstieg zu den Fundamenten der abstrakten Wissenschaft in Angriff, ließ Algebra und Analysis bald hinter sich und kam immer mehr zu den logischen Grundbegriffen, auf denen die Mathematik zu ruhen schien.

Das führte unter anderem dazu, dass ihr nunmehr nicht nur die Physiker, sondern das gesamte menschliche Treiben steinzeitlich vorkam. Jeder Kontakt mit dem Alltag warf sie in einen Zustand zwischen traurigem Mitleid und heftigem Ärger darüber, dass ihre Mitmenschen sich Fernseher und Autos zulegten, Familien planten und sich von Nachrichten und Werbung beeinflussen ließen, statt sich der Herleitung eines Beweises für die Irrationalität der Kreiszahl oder der Berechnung von Konvergenzradien zu widmen. Sie zog sich mehr und mehr von der Außenwelt zurück, kaufte das Notwendige nur noch in den ruhigen Stunden ein, ging nicht mehr zu den Vorlesungen und lernte für sich alleine aus Büchern, die ihr ein-, zweimal monatlich einen Besuch in der Bibliothek aufzwangen. Während sie so viel wie möglich über Beweistheorie und logische Kalküle lernte, übersah sie, dass ihr Bauch immer weiter wuchs und als ihr schließlich bewusste wurde, dass sie schwanger war, war es bereits zu spät für eine Abtreibung. Ohne sich weiter ablenken zu lassen legte sie den Gedanken, dass sie ein Kind gebären würde, zur Seite und widmete sich wieder ihrem Studium.

Drei Monate vor meiner Geburt nahm sie sich Kurt Gödels Aufsatz über die Existenz unentscheidbarer Sätze in der Mathematik aus dem Jahr 1931 vor. Sie kopierte sich den Artikel und nahm ihn von da an überallhin mit, sogar in den Supermarkt und wenn sie duschen ging, wobei sie die Blätter dabei in einer Plastikhülle auf die Waschmaschine im Badezimmer legte.

Aber egal wie sehr sie sich auch mit Gödels Beweisen beschäftigte, es entglitt ihr am Ende doch immer die letzte Einsicht. So kam es, dass sie den Aufsatz sozusagen als Geburtsvorbereitung auswendig lernte. Die darin enthaltenen Formeln waren zu kompliziert, um sie laut vor sich hinsagen zu können, also merkte sie sich die Symbole und übte beharrlich ihre Konzentration, bis sie die einzelnen Zeichen in ihrem Geist Formel für Formel, Zeile für Zeile, Seite für Seite wiedergeben konnte, ohne dass irgendeine Störung sie von Gödels Gedankengängen hätte ablenken können. Als sie die 26 Seiten vollkommen verinnerlicht hatte, setzten die Wehen ein und sie ging zu Fuß und tief in Gedanken versunken, ins Allgemeine Krankenhaus.

Auch auf der Entbindungsstation wiederholte meine Mutter in ihrem Kopf die Funktionen und Sätze, mit denen Gödel seine Erkenntnisse in den bis dahin unerschüttlichen Urgrund des folgerichtigen Denkens geschrieben hatte, sie rang in der universalen Stille, in der die formalen Systeme verborgen ruhen, während durch ihren Körper die Scherzwellen zuckten, die meine Ankunft in der Realität begleiteten. Zwischen zwei Wehenattacken fuhr sie den anwesenden Hebammen und dem Arzt über den Mund und verbot ihnen sich zu unterhalten. "Solange ich hier nicht schreie halten auch sie den Mund" hatte sie mit der Autorität einer Hochschwangeren gesagt.

Die Kämpfe und Krämpfe in ihrem Kopf und ihrem Körper zogen und zerrten aneinander, rangen um Aufmerksamkeit und schwangen in allen möglichen Modulationen aus Schmerz und Verzweiflung, bis ihre Amplituden sich schließlich auf günstige Weise überlagerten und gegenseitig aufhoben. Schmerzlos, schwerelos wurde ich in eine klangleere Welt geboren - niemand sprach, die Hebammen vermieden jedes Geräusch, um die junge Mutter nicht in ihrer Konzentration zu stören und da alles so leise war, unterlies auch ich es zu schreien und blieb einfach stumm. Selbst als man die Nabelschnur durchschnitt und der Arzt mich schüttelte um mir ein Weinen oder Schreien abzuringen, gab ich keinen Laut von mir.

Während ich von ihr getrennt wurde, verstand meine Mutter, dass sie verstanden hatte. Der Aufsatz aus den 30er Jahren war wie ein Erdbeben über die Erkenntnisfähigkeit der Menschen gekommen und hatte einen bodenlosen Abgrund aufgerissen, der die Sinnhaftigkeit des Denkens selbst in Frage stellte. Sie hatte monatelang mit ihrer ganzen Konzentration versucht, in diesen Abrund zu blicken und genau in dem Moment, als es ihr schließlich gelungen war, kam ich daraus hervorgekrochen – nass und klein und stumm.

Sie sah mich an, hielt mich an ihre Brust und dann schliefen wir ein. Träumend war ich ihr näher, als ich es mit meinem kleinen Körper hätte sein können – wir lagen aneinander und wurden eingesponnen von den seeligen Fragen, die um die Grundlagen des Verstehens schwirren.