Neumond
Der Hunger weckte mich gegen dreiundzwanzig Uhr und fand kurz darauf den Geruch von saurer Milch im Kühlschrank vor. Ich dachte an die biochemischen Abläufe in der Milchtüte, das aufquellende, sich verfestigende Weiß und von da aus war es nicht mehr weit zu der Zelle, die sich in zwei Teile teilt, dann in vier, dann in sechzehn. Die sich zu etwas Neuem zusammenteilt. Der Geruch war stechend, ich schloß die Kühlschranktür ohne die Milchtüte herauszunehmen und wegzuwerfen.
Seit meiner Ankunft am Morgen hatte ich mit der Müdigkeit um die Hoheit über die Augenlider gerungen. Gegen sechzehn Uhr war ich mir sicher die Zeitumstellung besiegen zu können und gestattete meinem Kopf sich auf den Schreibtisch zu legen. Um sich ganz kurz von dem gewonnen Kampf gegen den Schlaf auszuruhen. Um die Augen zuzumachen, mich auf das Brennen an ihren Rändern zu konzentrieren und darauf, wie es sich hinter die geschlossenen Lider zurückzieht. Es zog sich auch zurück. Nur eben sehr langsam. Einschläfernd langsam.
Etwas mehr als sieben Stunden später trieb der Hunger den Kopf von der furnierten Unterlage wieder hoch und fand danach nichts Essbares im Kühlschrank vor. Meine Haare waren kurz genug um nicht gleich beim ersten Betrachten davon zu erzählen, dass mein letzter Besuch in einer Dusche mehr als vierundzwanzig Stunden zurücklag. Ich hatte keine Kraft mehr für Körperpflege, nur noch Hunger und so ließ ich mich und mit mir meine Gedanken an die Dönerbude und von dort aus weiter in den Park treiben.
Während ich auf dem Schreibtisch eingeschlafen war hatte ich geträumt ich säße neben Heiner, den ich mir während des Fluges ausgedacht hatte. Nun hing er bis tief in meine Tiefschlafphasen hinein an mir. Vielleicht wollte er sich damit für seine Erschaffung bedanken. Oder rächen. Oder einfach nur weiterexistieren.
Heiner ist der Mann, der als erster anfing zu denken. Namenlos und traurig saß er vor seiner Steinzeithöhle herum und blickte in den mondleeren Himmel. Da kam ich vorbei um ihn zu erfinden und weil die geistige Größe seiner Nachfahren sich nicht auf seinem Gesicht abzeichnete, nannte ich ihn Heiner.
Immer bei Neumond sitzt er hier auf seinem Stein während seine Frau sich weit hinten in die Höhle verkriecht. Dann ist er nur ein Heinerle und versuchst so etwas wie eine Ahnung von dem zustande zu bringen, weshalb sie das tut. Aber er weiß ja noch nicht mal, was ein Ahnung ist – er starrt zum Himmel und sieht, genau wie beim letztenmal als sie ihn rauswarf, keinen Mond. Wie lange dauert es noch, bis er begreift, dass sie ihn ohne Mond nicht will? Wie oft noch muss sie sich blutend in ihre Einsamkeit zurückziehen? Der Mond, ihr Blut und sein Warten bilden eine Einheit für ihn. Der Mond geht fort und deshalb blutet sie. In seinem unbenutzten Gehirn werden bald Neuronen erkenntnisbegeistert über neue Bahnen schiessen und ihm etwas über Zeit von innen ins Ohr singen, von Zusammenhängen, von periodischer Wiederkehr und nur ein paar kurze Millionen Jahre später den Begriff Menstruation dafür prägen. Sein Warten wird jedes Mal ein Ende haben. Wenn der Mond sich wieder zeigt lässt sie ihn wieder zu sich. Bis dahin kann er sich die Zeit fortan mit Denken vertreiben.
Es sind immer die Frauen, die mit dem Denken anfangen, nur um es danach den Männern aufzuzwingen.
Gestern, kurz vor dem Abflug, stand ich in der Schlange vor den Metalldetektoren und steckte Geldbeutel, Uhr und Mobiltelefon in die Jacke, legte sie in den waschkorbähnlichen Behälter und bevor dieser durch den schwarzen Bauch das Röntengeräts zuckelte hörte ich den SMS-Ton. Erst hinter der Kontrolle konnte ich die Nachricht lesen. Halb in meiner Jacke, halb ohne Begriff von dem was ich las, stand ich den anderen Passagieren im Weg und da kam mir zum erstenmal Heiner in den Sinn.
Später flog ich im Airbus gegen die Erddrehung an. Nach dem Abendessen zwang eine Komödie, die sich selbst nicht lustig fand, den noch wachgebliebenen Mitreisenden so was wie Unterhaltung auf. Aus dem Fenster, an der weißen Tragfläche vorbei, sah ich Lichter am Boden. Einige erloschen, andere gingen an. Zeitzonen liefen durch die Nacht nach Westen davon, wo wir gestartet waren, programmierten den Jet Lag.
Ich dachte an Heiner und setzte mich zu ihm. Beide seufzten wir eine Portion Selbstmitleid in die kühle Luft vor seiner Höhle und sahen einander an. In Ermangelung einer Sprache tauschten wir mit unseren Blicken die Sorge über die Evolution im Allgemeinen und unsere persönliche Lage im Besondern aus. So machte Erkenntnis keinen Spaß. Er grunzte. Ich nickte.
Ich stand auf und begann ihm einen Vortrag zu halten. Über die Zeit, die wir antreiben wenn wir handeln und die uns im Warten umtreibt. Zeit, sagte ich, Zeit ist nicht nur unangreifbar und unausweilich wenn man wartet. Wenn man auf den ersten Kuss, ein Paket, die Gehaltserhöhung wartet und sich die Körpersäfte an den Fingerspitzen sammeln, um die Möglichkeit bettelnd etwas tun zu können. Aber man kann gar nichts tun wenn man wartet. Schon gar nicht während eines zehn Stunden Fluges oder vor einer Höhle in der Steinzeit.
Ich redete über die Tragweiten von Taten und die Unsicherheiten des Lebens. Worauf man sich alles einlässt, wenn man sich einlässt. Was man halt so bespricht unter gebildeten Männern, in einer Nacht, in der weder Mond noch Frauen sich Zeit für uns nehmen. Seine Augen folgten mir während ich vor ihm in Kreisen lief, mit den Armen meine Ausführungen unterstrich und dabei doch nicht genügend Staub vom Boden aufwirbelte um wirklich beeindruckend zu sein. Er grunzte nochmal und ich setzte mich wieder neben ihn.
Die Krämpfe in meinem rechten Bein, die ich immer dann bekomme wenn ich längere Zeit auf engem Raum sitze, holten mich ins Flugzeug zurück. Seit einigen Jahren messe ich mein Alter nicht mehr an beruflichen und privaten Erfolgen sondern an körperlichen Verfallserscheinungen.
Ich versuchte zu schlafen und scheiterte. Die Komödie war zu Ende, jetzt wurden Zeichentrickfilme mit Donald Duck und Pluto gezeigt – ich kannte sie bereits vom Hinflug. Jemand schnarchte, ein Kind schrie ein paar Mal im Schlaf auf. Ich hätte mich über die Geräusche ärgern können, aber das wäre verlogen gewesen. Die beiden Sätze der SMS hingen übergewichtig auf meinem Hirn und meiner Stimmung, zwangen die Gedanken zu Kreisbewegungen, ließen mich nervös nach Ablenkungen suchen die es nicht gab.
Dann kam das Frühstück und ich war immer noch nicht gescheiter. Draussen wurde der Horizont zu einem roten Streifen. Ich besah mir den Sonnenaufgang, der die vereinzelten Wolken über meiner Heimatstadt menstruationsrot einfärbte. Die Maschine landete sanft und die Leute klatschten Beifall. Sogar ich schlug meine Hände ineinander. Ein sonnendurchfluteter Tag, wie passend.
Auf dem Weg zu meiner Wohnung wollte der Taxifahrer ein Gespräch anzetteln. Ich hörte nicht zu, fragte ihn stattdessen ob er einer Meinung mit Ernst Bloch sei, von dem der Satz stammt die Not würde uns das Denken lehren. Danach war er still. Anscheinend verdienen sich gescheiterte Philosophiestundenten ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch Taxifahren.
Erst zu Hause schaltete ich mein Handy wieder ein. Es klingelte weder noch brachte mir eine weitere Kurznachricht die erhoffte Entwarnung. Ich rief auch niemanden an. Die meiste Zeit bis sechzehn Uhr verbrachte ich damit auf dem Sofa zu sitzen, den Birkenbäume im Hinterhof beim Wachsen zuzusehen und die nörgelnde Müdigkeit zu unterdrücken. Heiner hatte ich zu der Zeit bereits wieder vergessen, er kam erst im Traum zu mir zurück.
"meine periode ist sei einer woche ueberfaellig. ich hoff so sehr wir kriegen ein kind. anne" stand in der SMS, die ich mir auf der Parkbank nochmal durchlas.
Der Mondgott lächelte gestern mit dünner Sichel ins Flugzeug und hatte sich heute ganz aus der Verantwortung in den Erdschatten bewegt. Die Gesetze der Zeit flüsterten durch die Nacht und meine Welt wurde so archaisch wie die Heiners: der Mond, ihr Blut, mein Warten und dazu die Möglichkeit, dass sich die Zelle bereits millionenfach geteilt hatte während ich für vierzehn Tage auf einem anderen Kontinent war.
Heiner kam den Hügel herauf und setzte sich vor der Parkbank auf den Boden. Zuerst war ich verwundert über sein Auftauchen, fand es dann aber nur gerecht, dass er ebenso leicht in meine Zeit eindringen konnte wie ich in seine. So ist das mit den Geschöpfen, die man in die Welt setzt: zuerst grunzen sie einen noch ohne Bewußtsein an, nur um ein paar Zeiteinheiten später einen eigenen Willen zu entwickeln.
Wahrscheinlich wollte er mir sagen, dass meine Situation ebenso natürlich war wie seine. Er hatte ja keine Ahnung von über Jahrtausenden gewachsenen Zivilisationsnöten und Bindungsängsten.
Plötzlich hielt er das Steinzeitmodell eines Mobiltelefons in der Hand und begann mit seinen behaarten Fingern darauf rumzutippen. Noch nicht mal sprechen können aber schon Kurznachrichten schreiben.
Ich schlug mir mit beiden Händen fest auf die Oberschenkel und stand dann recht zögerlich auf. Es hatte keinen Sinn weiter auf eine Nachricht zu warten, die von einer verspäteten Monatsblutung kündete.
"Hör mal Alter, Anna wohnt gleich um die Ecke und so wie ich ausseh nimmt sie mir glatt ab, dass ich gerade erst gelandet bin. Kommst du allein zurecht, wenn ich sie jetzt besuche?"
Er blickte etwas abwesend von seinem Handy hoch, nickte unwirsch und machte eine Handbewegung die mich zum Gehen aufforderte. Dich erfinde ich auch nochmal, pubertierender Halbaffe.
So trennten wir uns und wanderten tiefer in unsere privaten Tragödien hinein. Vielleicht krieg ich ja mal eine SMS von ihm.