Die Abstimmung

Sonntag: Hervorhebung

Das Buch liegt auf dem Bett und während ich den Koffer auspacke überlege ich, ob ich es nun gestohlen habe oder ob es eine freundlichere Umschreibung für mein Verhalten gibt. Ich finde keinen passenderen Begriff. Wenn man nach insgesamt siebenundzwanzig Stunden Flug ein gelbes Reclamheft auf dem Boden vor der Hotelrezeption liegen sieht, ein Heft, das offenbar niemand in der Schlange vor einem bemerkt, wenn man hingeht, es aufhebt, sich wieder an seinem alten Platz in der Schlange zurückstellt und von keiner Person darauf angesprochen wird, das Buch also von keinem der Umstehenden vermisst wird, wenn man dann etwas in dem Buch findet, dass es einem schwer macht, es wieder aus der Hand zu legen und es deshalb, wenn man an der Reihe ist, der jungen Dame, die einem Zimmernummer und den dazugehörigen Schlüssel gibt, nicht als Fundstück meldet, wenn man sich die ganze Aufzugfahrt in den vierzehnten Stock darauf freut, dieses Buch wieder zu lesen, ist das dann Diebstahl? Ich glaube schon.

Als ich vor beinahe zwei Tagen zu Hause gepackt habe fiel mir kein Buch in die Hände, das ich lesen wollte. Auf dem Flug nach Wien habe ich in den Zeitungen geblättert, auf dem Flug nach Singapur ein paar Gläser Rotwein zuviel getrunken und daraufhin sehr gut geschlafen und auf dem letzten Stück, zwischen Singapur und Sidney habe ich mir auf dem Laptop nochmal die Dokumente für die Konferenz durchgesehen. Es ist Sonntagnachmittag, ich bin müde und draußen, zwischen den Hochhäusern, scheint die Sommersonne, die mir, der ich im Winter abgereist bin, momentan noch unnatürlich erscheint. Morgen fängt die Konferenz an und je länger ich keinen der anderen Delegierten sehe desto besser.

Die Hemden haben die Reise nicht überstanden ohne zu zerknittern. Seit Jahren packe ich Koffer, aber noch nie kam ein Hemd so am Ankunftsort an, dass es nicht nochmal Bekanntschaft mit einem Bügeleisen hätte machen müssen. Wenigstens steht im Kleiderschrank ein Bügelbrett und alles nötige Zubehör. Man hat mir eine Suite gegeben, die aus zwei Zimmern besteht. Gleich neben dem Eingang geht es ins Bad, danach kommt eine kleine Küche, eine Sitzecke mit einem Stuhl und hinter einer weiteren Tür liegt das Schlafzimmer, in dem ich mich aufhalte. Beim Reinkommen habe ich die Stores von den Fenstern zurückgezogen und sah auf Sydney hinab – man sieht von allen Fenstern aus die Oper und daneben die Harbour Bridge, dahinter dann noch ein paar Inseln und ab da verschwimmen die Entfernungen und das Meer und der Himmel, egal wie sehr man starrt.

Direkt vor mir, auf dem Bett, liegt das gelbe Heft mit der Aufschrift "König Ödipus". Meine Deutschlehrerin meinte einmal, dieses Buch sei der mitreissenste Psychothriller der Weltgeschichte und ich weiß noch, dass ich Sophokles' Drama danach gleich mehrmals in mich hineingelesen habe, ganze Absätze auswendig lernte und nicht genug kriegen konnte von dem Stück. Das ist beinahe zwanzig Jahre her. Es war das gleiche, gelbe Reclamheft mit der schwarzen Schrift und dem schwarzen Sphinxbild auf der Vorderseite. Und heute lag es wieder vor mir, am anderen Ende der Welt, in meiner Sprache, in der genau gleichen Übersetzung, wie ich noch beim ersten Durchblättern feststellte, die ich damals gelesen hatte.

Ich lass den Koffer halbvoll stehen und nehm das Buch in die Hand. Auf der Innenseite, das sah ich an der Rezeption bereits, steht ein mit Tinte geschriebener Name, den ich mir laut vorlese "Ralisera Gatovina". Ich höre mir selber zu und lese den Namen nochmal laut. Es gefällt mir, wie sich die Buchstaben aneinanderreihen, wie der Vorname mit einem harten, rollenden R anfängt um dann ganz weich auszuklingen und ich mag es fast noch mehr wie mächtig und doch friedvoll der Nachname auf mich wirkt. Was ich da vor mich hinwiederhole klingt russisch oder polnisch und wenn ich nicht vorsichtig bin, dann sage ich bis in die Nacht hinein immer nur diesen Namen und komm nicht dazu das Buch zu lesen. Weshalb liest jemand, liest eine Frau mit diesen Namen in Australien die deutsche Übersetzung eines alten griechischen Dramas?

Vorsichtig schlage ich die erste Seite um und dann die nächste und dann noch eine und finde mich schon wieder beim Blättern durch das Heft. Auf manchen Seiten sind Zeilen am Rand mit dünnen Bleistiftstrichen markiert. Sätze wie "Wem vor der Tat nicht graut, den schreckt auch kein Wort" und "Ich fürchte, daß aus diesem Schweigen aufbrechen werden schlimme Dinge". Da stehen die Worte sogar noch in der alten Rechtschreibung und ich stolpere über das scharfe S. Weiter hinten, auf Seite achtundfünfzig sind zwei Zeilen sehr sorgfältig umrandet, der Bleistift wurde fester aufgedrückt als an anderen Stellen und die Striche schließen einen einzelnen Satz ein: "Wohin entfliegt mir die Stimme, verhallend?"

Mein Daumen drückt sich zwischen Seite achtundfünfzig und neunundfünfzig, ich lasse das Buch sinken, greife mit der linken Hand nach dem Telefon, nehm den Hörer ab, wähle mit Links – ich kann das Buch nicht loslassen – die Nummer der Rezeption und halte mir dann den Hörer ans Ohr. Es dauert nicht lange, bis sich eine Frauenstimme freundlich meldet.

"Hello. I just wanted to know whether Miss Ralisera Gatovina has already checked in."

"How do you spell this name?" fragt sie – ich buchstabiere den Namen der Unbekannten und höre das Klicken einer Computertastatur am anderen Ende der Leitung. "Yes, she already arrived. Shall I connect you to her room?"

"Actually no, thank you, but" ich weiß, dass das was ich jetzt frage in den meisten Hotels der nördlichen Hemisphäre mit einem freundlichen Nein beantwortet wird, aber ich befinde mich zu weit weg von zu Hause und halte unverhofftes Diebesgut in meiner Hand, brauche also jetzt auch nicht mehr anfangen mich zu schämen "could you tell me her room number?" Nicht mal eine Ausrede lasse ich mir dafür einfallen, weshalb ich ihre Zimmernummer haben möchte.

"Sure," sagt sie ohne weiteren Einwand "the room is seven four two."

"Seven four two – thank you very much!" sage ich und lege auf. Siebenhundertzweiundvierzig. Quersumme dreizehn. Das Telefon sieht mich mit seinen Tasten an, aber ich gehe nicht auf seinen Vorschlag ein, die Besitzerin des Buches jetzt schon anzurufen. Erst werde ich es lesen und es ihr dann zurückgeben. Morgen. Ralisera Gatovina kann noch ein paar Stunden warten. König Ödipus nicht.

---

Montag: Inversion

Nick blickt von seinem Papier zu mir hoch, sagt "Thank you Mister Chairman" ins Mikrofon und ich antworte ihm "Thank you Nick for this very detailed presentation". Während er das Mikro zurück an den Ständer im Mittelgang trägt und dort befestigt frage ich "Are there any questions concerning this presentation?"

Von den etwas mehr als hundert Delegierten, die vor mir sitzen, hebt keiner seine Hand. Die meisten von uns kommen von der Nordhalbkugel und es ist offensichtlich, dass alle noch mit der Zeitverschiebung kämpfen. In den hinteren Reihen haben einige Teilnehmer Computer und Wasserflaschen zur Seite geschoben, ihre Köpfe auf ihre Arme gebettet und schlafen. Solange keiner schnarcht stört das nicht. Einige unterhalten sich leise, ein paar sehen zu mir und der Rest starrt müde in die Laptops. Der langgezogene Raum hat keine Fenster, die Türen sind verschlossen und die Klimaanlage bläst mit leisem Geräusch, dass mit der Zeit immer weniger wahrnehmbar wird, zu wenig kühle Luft in die ausgetrocknete Stimmung.

Wir sind alle Abgesandte unserer Firmen und finden uns im Abstand von ein bis zwei Monaten jeweils für eine Woche in einem Konferenzzimmer zusammen um irgendwo auf der Welt über die Technologie der Zukunft zu diskutieren. Dies ist nun das dritte sogenannte Meeting dem ich vorsitze, der Gruppe selbst gehöre ich seit mehr als fünf Jahren an. Ganz habe ich mich noch nicht damit abgefunden, dass ich nicht mehr bei jeder technischen Schwindelei der Konkurrenz das Mikro in die Hand nehmen und mich ereifern darf. Seit September letzten Jahres muss ich darauf achten neutral zu sein, dafür werde ich auch als Herr Vorsitzender, als Mister Chairman angesprochen. Alle Diskussionen laufen über mich, die Teilnehmer sprechen sich nie direkt an – das nimmt meistens einen Schuss Adrenalin aus den Auseinandersetzungen. Somit fällt mir zumindest das Wachbleiben nicht schwer.

Diese Woche sind wir in Sidney und die Agenda ist kurz: sieben Themen und unter denen gibt es nur einen problematischen Punkt, nämlich die inverse Iteration des Eigenvektors. Das Problem wird sei Monaten diskutiert und nun haben wir vom Plenum den sehr klar formulierten Auftrag erhalten, in dieser Woche zu einer Lösung zu kommen, notfalls über eine Abstimmung. Es ist klar, dass es am Freitag zu einer Abstimmung kommen wird, daran zweifelt niemand. Die beiden vorliegenden Lösungsansätze der Firmen CoTaTec und SeelBIT scheinen mehr oder weniger gleichwertig und selbst die detaillierteste technische Diskussion wird keine der beiden Firmen dazu bringen, ihren jeweiligen Vorschlag zurückzuziehen.

Nick hat über zwanzig Minuten den SeelBIT-Vorschlag präsentiert, hat sich dabei immer wieder über seine Glatze, die er sich täglich frisch rasiert, gestrichen oder die runden Brillengläser auf seiner Nase um Hunderstelmillimeter verschoben. Anfangs gab er sich noch Mühe die Zuhörer auf die Problematik hinzuführen, aber spätestens als er zum Kernpunkt, den Schwingungsamplituden kam, ließ die Aufmerksamkeit im Raum spürbar nach. Er warf mit Matrizen um sich, multiplizierte, addierte und invertierte, widerlegte erste Näherungswerte mittels komplexer Grenzwertbetrachtungen und wies immer wieder darauf hin, dass er natürlich nur einen kurzen Überblick über den Lösungsansatz seiner Firma geben könne, das Thema sei zu kompliziert und er vermute, dass sich alle bereits im Vorfeld mit der Thematik und seinem Papier auseinandergesetzt hätten. Er weiß, dass das bei den meisten nicht der Fall ist. Seine Art, jeden Zuhörer hinter sich zu lassen und sich immer mehr in den Details zu verlieren lässt jedoch einige Delegierte glauben, die von ihm vorgestellte Lösung wäre bis ins Letzte durchdacht.

Pekka seufzt leise neben mir. Er ist der Sekretär des Meetings, das heißt er verwaltet die Dokumentennummern und schreibt den offiziellen Report. Es gibt niemanden in der Gruppe, dem ich mehr vertraue und den ich mehr schätze als ihn, obwohl unsere Firmen Konkurrenten sind.

Da sich kein Teilnehmer zu Nicks Papier äußern will bleibt uns vor der Kaffeepause noch genug Zeit, um den Gegenvorschlag vorzustellen. "Good. So we then can go straight to the CoTaTec proposal. Who is going to present that?" Martin, der CoTaTec normalerweise repräsentiert, ist diesmal nicht anwesend – seine Frau ist hochschwanger und so hat er gerne auf die Reise nach Australien verzichtet. Bisher weiß ich nicht, wer für die Firma sprechen wird.

Ich widme mich kurz meinem Laptop, um Nicks Dokument zu schließen und das von CoTaTec zu öffnen. Alles was ich auf meinem Bildschirm sehe wird auch auf der großen Leinwand hinter mir angezeigt, damit die Delegierten besser dem Verlauf der Vorträge folgen können. Dokument F7-01325.zip. Gerade als ich die Datei öffnen will, höre ich Pekka neben mir tief einatmen. "Juma Lauta" sagt er auf Finnisch, ich habe keine Ahnung was das heißt, sehe ihn von der Seite her an, sehe dass seine Augen in den Raum hinein starren, folge seinem Blick und dann bleibt die Zeit stehen.

Sie macht den letzten Schritt auf das Mikrofon zu. Wo sie die ganze Zeit gesessen hat weiß ich nicht, ich habe sie nirgendwo gesehen und sie ist groß genug um nicht übersehen zu werden. Vielleicht saß sie in einer der hinteren Reihen, hinter Richard und Andrew, den beiden Riesen, hinter denen immer ein toter Winkel herrscht. Ich kann mir nur gar nicht vorstellen, dass es für diese Frau einen toten Winkel gibt. Jetzt steht sie kerzengerade vor dem Mikrofon, justiert es mit ruhigen Bewegungen auf ihre Höhe und blickt dann auf und direkt in meine Augen. "Thank you Mister Chairman." Ich spüre meine Adern brennen, das Blut in meinem Kopf steht kurz davor gasförmig zu werden und ich weiß, dass ich rot anlaufe. Jeder könnte das sehen, aber niemand außer ihr sieht zu mir.

"My name is Ralisera Gatovina –" sie macht eine kurze Pause, in der ihr dunkelrotes, kurzes Kleid vor mir verschwimmt und alles um sie herum mit seiner Farbe ausfüllt. "I am here to present the CoTaTec proposal for the solution of the inverse iteration of the eigenvector." Sie spricht die rollenden Rs, den leichten Akzent, jedes der scharf abgeschnittenen Worte in die Stille des Konferenzraumes, aus der heraus sie mehr als hundert Augenpaare beobachten.

"Mister Chairman" sagt sie.

"Yes" meine Stimme hat keinen Klang mehr.

"Could you please open document F7-01325?"

"Of course" – meine Augen kehren langsam zum Bildschirm zurück, die rechte Hand versucht die Maus zu dirigieren, der Zeiger trifft die Fenster auf dem Bildschirm nur noch bei jedem zweiten Anlauf. Endlich erscheint die Sanduhr, F7-01325 öffnet sich, Ralisera Gatovina nickt mir zu und beginnt zu sprechen. Ihre Hände hält sie auf Höhe des Mikros und bewegt sie ab und zu, um eines ihrer Worte zu verdeutlichen. Einmal streicht sie sich durch das lange, schwarze Haar und verlagert das Gewicht von einem Bein auf das andere. Ansonsten steht sie still. Sie lächelt nicht, sie verzettelt sich in keiner Ausführung, sie spricht deutlich und in kurzen Sätzen, die mir, obwohl ich mich nicht auf ihren Inhalt konzentrieren kann, alle wesentlich einleuchtender erscheinen als Nicks mathematische Drahtseilakte.

Innerhalb von zehn Minuten ist sie fertig, bedankt sich höflich und bleibt vor dem Mikrofon stehen. Nichts an ihr wirkt aufgeregt, ihre Mundwinkel zucken nicht, es sieht fast so aus, als würde sie mit leisem, überheblichen Spott auf die versammelten Ingenieure aus aller Welt blicken.

"Thank you Ralisera," ihr Name gibt meiner Stimme wieder etwas Ausdruck "are there any questions or comments for the proposal we just heared?" – ich wundere mich, wie herablassend der Satz klingt und ich glaube ein kurzes Funkeln in ihren ansonsten ruhigen, grünen Augen zu sehen.

Alles bleibt still und für einen Moment denke ich daran, ins Mikrofon zu sagen, wie gut ihr das Kleid steht. Ein dummer Gedanke. Ich muss trotzdem lächeln. Und dann sehe ich Nick in der ersten Reihe sitzen, der seine Augen auch nicht von ihr nehmen kann und in dessen Gesicht sich Wut und Staunen mischen und gleich neben ihm starrt sogar Sarah in die gleiche Richtung wie alle anderen und weiß, dass sie um ihre Stellung als attraktivste Frau der Gruppe nicht mehr länger bangen muss, sie hat sie gerade verloren.

Ein Ruck geht durch meine Schultern, ich bin offenbar der erste, der die Fassung wieder gewinnt und immer noch lächelnd fahre ich fort "Well, I guess we will come back to this issue later this week. Thank you again for your excellent presentation, Ralisera." Sie sieht mir direkt in die Augen und von der Sicherheit, die ich für einen Augenblick zu haben glaubte, bleiben nur Ruinen. Was genau sie mit diesem Blick bezwecken will weiß ich nicht, aber er berührt mich nicht nur wegen ihrer Schönheit. Dann dreht sie sich um und geht langsam auf ihren Platz hinter Andrew zurück.

Ich entlasse das Meeting in die halbstündige Kaffeepause, atme einmal tief durch und sehe dann Pekka an.

"Pekka," sage ich.

"Yes?"

"I got it!"

"What?"

"Her book" und dann steh ich auf und geh auf mein Zimmer.

---

Dienstag: Fragestellung

Nick nimmt die nächste Papierserviette vom Stapel, streicht sich mit der linken Hand über die Glatze und malt dann ein Diagramm auf die Serviette – die drei koreanischen Kollegen beobachten ihn genau dabei und werfen sich ein paar abgehackte Sprachfetzen zu, die alle chinesisch für mich klingen. Auf dem Tisch liegen bereits unzählige Papierservietten wild durcheinander, alle vollgekritzelt mit Zahlen und Variablen in Nicks Handschrift. Manchmal kann ich meinen Job nicht ausstehen.

"One more beer" sagt Pekka, der den ganzen Abend über still war und stemmt seinen massigen Körper von der Bank hoch.

"No, it's enough" versuche ich ihn zurückzurufen, aber da ist er schon fast an der Bar. Einen Finnen vom nächsten Bier abzuhalten ist schwieriger als von hier nach Feuerland zu schwimmen. Und wer will schon nach Feuerland? Ich sehe wie Pekka die zwei Bier ordert und mit Kreditkarte zahlt – das Essen haben wir bereits bezahlt. Es ist zweiundzwanzig Uhr Ortszeit und über das Lokal verteilt sitzen mehr als dreißig Delegierte. Pekka und ich kamen als letzte an, da wir noch am Report gearbeitet hatten. Es war nur noch an diesem Tisch Platz und Nick hat uns von der Vorspeise bis zur Nachspeise erklärt, weshalb seine Lösung die bessere ist. Pekka hat recht, wir brauchen noch ein Bier. Das vierte. Oder fünfte. Hoffentlich zählt da niemand mit.

Ralisera sitzt weiter hinten, ich muss mich über den Tisch beugen, um irgendetwas von ihr zu sehen. Andrew und Mark sind mit ihr am Tisch und vorhin habe ich Mark laut lachen gehört – es scheint, sie reden nicht nur über Eigenvektoren. Während ich noch darüber nachdenke, aus welchem Grund ich mich vorbeugen könnte, kommt Pekka mit zwei großen Biergläsern zurück, stellt mir eines davon hin, setzt sich neben mich und fährt mit seinem Schweigen da fort, wo er es vorhin unterbrochen hat. Die Koreaner unterhalten sich jetzt untereinander und wühlen sich durch die beschriebenen Servietten und Nick starrt nachdenklich auf den Fußboden neben ihm. Irgendwie ist das hier nicht der richtige Tisch für mich.

Ich steh auf und täusche vor, den Weg zur Toilette nicht zu kennen. Als ich an ihrem Tisch vorbeigehe blicke ich zu ihr, sie trägt eine grüne Bluse, die mir nicht gefällt. Andrew redet mit ihr und nun hebt sie den Kopf, sieht mich an und ich weiß nicht, was ich tun soll. Schließlich drehe ich mich um und steuere doch noch die Toilette im ersten Stock an. Michael kommt mir auf der Treppe entgegen. Er und ich arbeiten in der gleichen Firma.

"Hast Du die Frage schon formuliert?" fragt er. Ich schüttle den Kopf. "Wann muss die fertig sein, damit die Abstimmung stattfinden kann?"

"Morgen abend. Wir brauchen zwei Fragen – für jede Lösung eine. Das wird noch ein Spaß." Bevor er weiterreden kann, bin ich schon in der Toilette verschwunden. An die Fragen hatte ich den ganzen Abend über nicht mehr gedacht. Über jede der vorgestellten Lösungen muss einzeln und unabhängig mit einer Entscheidungsfrage abgestimmt werden und deren Formulierung nicht so einfach wie man denken könnte, jede muss den kompletten Ansatz enthalten und von beiden Seiten abgesegnet werden.

Mein linke Hand liegt flach auf der weiß gekachelten Wand, während ich einem Teil meiner Körperflüssigkeit dabei zusehe, wie sie im Urinal verschwindet. König Ödipus hatte wirklich interessantere Probleme. Aber für den ging die Geschichte ja auch nicht gut aus. Ich schließe die Hose, wasch mir die Hände und seh mich im Spiegel an. Ich reib mir Wasser ins Gesicht und schau nochmal hin. "Du sitzt am falschen Tisch" sag ich, trockne mich an mehreren Papierhandtüchern ab und geh dann wieder runter.

Die Koreaner sind dabei aufzubrechen und schütteln mir alle drei nochmal lachend die Hand. Ich lache auch, wünsche ihnen eine gute Nacht und warne sie vor dem verwirrenden Inhalt der Papierservietten, die sie tatsächlich mit sich nehmen. Pekka lehnt mittlerweile über den Tisch und redet auf Nick ein, der mich hilfesuchend ansieht. Nicht alle können mit Pekka umgehen. Ich bleib vor dem Tisch stehen.

"You have no chance Nickyboy, the chick will win." Pekka ist betrunkener als ich dachte.

"Saksalainen," sage ich Pekkas Nachnamen, "we start at nine tomorrow – it's about time, don't you think?" Ich seh ihn an, er zögert kurz und wuchtet sich dann wieder hoch.

"Ok, Boss" sagt er, nimmt seine Lederjacke und geht in Richtung Ausgang davon. Das Hotel ist nicht allzu weit entfernt und er hat den besten Orientierungssinn von uns allen. Morgen wird er mich wieder um eine Aspirin fragen.

"Nick, you better sit down tonight and make a proposal for the question" und bevor er etwas erwieder kann, nehme ich mein Bier vom Tisch und geh davon "I'll tell Ralisera the same" sage ich im Weggehen. Es ist nicht fair ihn alleine sitzen zu lassen und ich habe kein Recht, mich ihm gegenüber wie ein wichtigtuerischer Feldwebel aufzuspielen – er weiß sehr genau, dass er eine Frage vorschlagen muss und so wie ich ihn kenne, arbeitet sein Hirn schon die ganze Zeit daran. Andererseits hat er mich auch den ganzen Abend über gelangweilt und ich muss jetzt endlich in die Ecke des Raumes, in der ich in Gedanken schon die ganze Zeit bin. Mark und Andrew unterhalten sich als ich mich neben Ralisera auf die Bank setze.

"Hello" sagt sie ohne Betonung und rückt keinen Deut zur Seite.

"Wir können uns auf Deutsch unterhalten." Seit gestern habe ich auf diesen Augenblick gewartet. Ich stand über dem Reclamheft, hielt es bereits in der Hand und ließ es dann doch auf meinem Zimmer. Es wäre zu einfach gewesen, es ihr einfach zurückzugeben und ein bisschen höflich zu sein. König Ödipus ist mein Trumpf, mein Vorsprung und ich will sie nicht zu schnell aufholen lassen.

"Woher wissen Sie, dass ich Deutsch spreche?" Ihre Augen sind auf mich gerichtet. Sie spricht mit einem leichten Akzent und rollt auch auf Deutsch die Rs.

"Du weißt, dass Du die Abstimmungsfrage für Deine Lösung bis morgen aufschreiben und sie Dir von Nick und dem Meeting absegnen lassen musst?" Sie dreht ihren Kopf und betrachtet ihre Hand, die das Rotweinglas hält, von dem sie noch nicht viel getrunken hat.

Mark trinkt sein Bier aus, grinst mich an und sagt "Sorry for disturbing, Mister Chairman" und klopft dann Andrew auf die Schulter. Die beiden verabschieden sich kurz von uns und verlassen dann das Lokal. Ingenieure verstehen es eben, wo die Theorie aufhört und man zur Tat schreiten muss, selbst wenn es sich dabei nur um einen höflichen Rückzug handelt.

Nun rückt sie, ihr Glas nicht loslassend, doch ein Stück auf und lässt mich an den Tisch. Wir schweigen und ich sehe mir ebenfalls ihre Hand an, die dunkelrot lackierten Fingernägel, für die sie den farblich passenden Wein gewählt hat. Es dauert einen Moment bis ich bemerke, dass sie mich ansieht. Dann nimmt sie aus ihrer Handtasche, die neben ihr steht, einen Notizblock und ein Etui. Sie öffnet das Etui und ich sehe einen weiß-beigen Füller sowie einen Druckbleistift darin.

"Warum lächelst Du?" fragt sie. Sie scheint meinen Vorschlag, sich zu Duzen angenommen zu haben.

"Hast Du schon was für die Fragestellung vorbereitet?"

Ihre Augen blitzen grün auf "Beantwortest Du auch Fragen?"

"Manchmal, aber normalerweise nicht wenn ich mich nach dem fünften Bier mit Konkurrenten unterhalte."

Während ich einen Schluck aus meinem Glas nehme sehe ich, dass ihre Hände leicht zittern während sie den Füller aufschraubt.

Die nächste Stunde verbringe ich damit zuviel zu reden und ihr zu erklären, weshalb bestimmte Formulierungen und Satzstellungen für die Frage ungünstig sind. Sie hört mir zu, nickt manchmal, schreibt einen neuen Ansatz auf und ich kritisiere bis mein Bier leer ist.

"Du trinkst ja gar nichts von Deinem Wein."

"Ich trinke nie übermäßig im Beisein von Konkurrenten." Sie bleibt weiter über ihren Block gebeugt, sagt dann, ohne aufzusehen, "Hier, wie klingt das –" und liest die Frage vor, die sich über eine ganze mit ihrer Handschrift beschriebene Seite zieht. Jedes einzelne Wort sitzt, ein Nebensatz mit einer Relativierung, damit auch Nick seinen nackten Kopf nicht dazu schütteln kann ist drin und ihre wichtigsten Ansätze sind klar hervorgehoben. "Denkst Du, damit kommen wir durch?"

"Wir?"

"Meine Güte!" jetzt geht endlich etwas mit ihr durch. Ich bin kurz davor sie am Handgelenk zu packen und ihr etwas zu sagen, von dem ich noch nicht genau weiß, wie unfreundlich es klingen könnte – aber ich beherrsche mich.

"Ja, die Frage ist perfekt. Wenn Du Deinen kühlen Charm und etwas in der Größenordnung von dem roten Kleid einsetzt, hast Du keine Chance zu verlieren." Jetzt wird sie rot im Gesicht und wendet ihren Kopf zur Seite. Die Bluse steht ihr wirklich nicht. "Nur diese Bluse," sage ich "die ziehst Du besser nicht mehr an, die steht Dir nicht." Dann stehe ich auf.

Sie hat ihre Hand vom Rotweinglas genommen und hält sich am Tisch fest. Als ich vor dem Tisch stehend warte fragt sie, den Kopf immer noch gesenkt "Gehst Du?" In ihrer Stimme schwankt ein neuer, interessanter Unterton mit.

"Bevor ich hier noch mehr Unsinn red – ja."

"Kann ich mitkommen?" sie hebt den Kopf nicht.

"Klar – wir sind ja sowieso die letzten aus unserer Gemeinde." Das Lokal ist beinahe leer, irgendjemand hat Bob Dylan aufgelegt und der besingt seine Isis und den fünften Mai. Es ist der siebzehnte Januar, kurz vor Mittwoch und Ralisera packt ihre Schreibutensilien zurück in die Handtasche und steht dann nur geringfügig kleienr als ich neben mir. Wir gehen zum Ausgang und ich öffne ihr die Tür.

Draußen zieht Nieselregen durch die Straßen und wir laufen ohne Regenschirm und Worte den Weg zum Hotel zurück. Einmal glaube ich, dass sie kurz davor ist, sich an meinem Arm festzuhalten, doch ihre Hand berührt mich nicht. Im Hotel ruf ich schweigend den Aufzug, sie sagt, dass sie im siebten Stock wohnt und ich kann das "ich weiß" gerade noch verschlucken. Wir wünschen uns höflich eine gute Nacht, die Aufzugstüren schließen sich und dann fahre ich sieben Stockwerke alleine weiter.

---

Mittwoch: Erregung

Als am Nachmittag die beiden Fragen vorgestellt wurden, stand Sarah auf und begann gegen Raliseras Vorschlag zu argumentieren. Sie versuchte die CoTaTec Lösung auf technischen Weg anzugreifen, als Ralisera und einige andere Delegierte sie immer wieder berichtigten, wurde sie wütend und gab dennoch nicht auf. Ich habe Sarah mehrmals wütend im Meeting erlebt, sie ist Spanierin und ihr südliches Temprament geht weit über jedes Klischee hinaus.

Pekka, der erst gegen Mittag und nach der dritten Aspirin wieder fähig gewesen war, den Report weiter zu schreiben, hielt mich zurück, als ich sie zum erstenmal unterbrechen wollte. "Don't interrupt the bitch fight, boss" flüsterte er mir mit breitem Grinsen zu.

Sarah stand am Mikrofon im Mittelgang und feuerte ein schwaches Argument nach dem anderen ab, Ralisera hatte sich dauerhaft am rechten Rand postiert und hielt sich ruhig und ohne aufgeregt zu wirken gegen Sarahs Attacken. Sie stand wieder aufrecht da, diesmal in einem schwarzen, zweitiligen Kostüm, hielt das Mikro in der Hand, hörte aufmerksam zu und nickte zu Sarahs Worten, um sie kurz darauf zu widerlegen. Ich hatte es aufgegeben, als Vermittler zwischen den beiden zu fungieren, sie sprachen sich direkt an und ich dachte, dass damit allen geholfen sei, da wir so Zeit sparten.

Nach mehr als fünfundvierzig Minuten fragte Ralisera "sorry Sarah, I am not sure what are you actually trying to achieve here." Das war die falsche Frage. Sarahs Stimmlage schnellte in die Höhe, sie griff das Mikrofon fester und trat zwei Schritte auf Ralisera zu, die Delegierten in den ersten beiden Reihen schreckten zurück und dann schrie sie so laut, dass es aus den beiden Lautsprechern pfiff "What I am trying to achieve here, Miss Gatovena, is to show, that your proposal is pure bullshit!"

Andrew, der für die gleiche Firma arbeitet wie Sarah, stand einige Reihen weiter hinten auf und rief ihren Namen, sie hörte nicht, ich zog mein Mikro an mich. "Sarah," sagte ich "I think you better" und da lachte sie auf, kam nun auf mich zu und fiel mir ins Wort.

"Oh Mister Chairman" die Worte kamen mit mitleidiger Ironie aus ihr "I don't think you are the right person to guide us here."

"Sorry?"

"Everybody who knows you can see from how it is written, that you wrote this question yourself." Zum zweiten Mal in dieser Woche war es vollkommen still im Raum "Mister Chairman, you are biased" sagte sie mit zitternder Stimme. Sie warf mir öffentlich Voreingenommenheit für CoTaTec vor. Andrew durchquerte mit großen Schritten den Mittelgang und wand das Mikro aus Sarahs Händen, während ich kein Wort sagen konnte. Pekka pfiff neben mir gut hörbar durch seine Zähne und überbrückte mein Schweigen. "Andrew, you have to tell me, how I should state that in the report" sagte er trocken und einige der Versammelten lachten.

"I apologzie for the behaviour of my colleague" sagte Andrew mit schottischem Akzent, während er Sarahs Schultern mit einem seiner Arme fest umschlossen hielt - "there is nobody from our company who would doubt your integrity, Mister Chairman."

"I guess, we need a coffee break – we reassemble at 5pm."

In der Pause verschwand ich auf mein Zimmer und überlegte mir eine kurze Stellungnahme. Als ich zurückkam wurde mir auf den Weg ins Konferenzzimmer auf die Schulter geschlagen und gelacht. Ralisera saß auf ihrem Platz und sah aus dem Fenster. Wahrscheinlich konnte sie im Moment nichts besseres tun. Ich setzte mich auf meinen Stuhl und wartete, bis alle Delegierten sich wieder eingefunden hatten. Sarah kam nicht zurück und kurz nach fünf stand Andrew auf, entschuldigte sich nochmals und schlug dann vor, beide Fragen ohne weitere Diskussion zuzulassen. Es gab einen kurzen Applaus und ich sah niemanden im Raum, der nicht die Hände ineinander geschlagen hätte. "That's not for the questions, that's for you" flüsterte Pekka und ich hoffte, dass er recht hatte.

Nach dem Meeting spendierte mir Andrew noch ein Bier in der Hotelbar und erzählte von Schottland und von seiner Frau, die Kinderbücher schrieb, in denen sie alte Sagen neu erzählte. Ich war ihm dankbar für die Abwechslung und ging danach auf mein Zimmer zurück.

Draußen gehen die Lichter in den Hochhäusern und Stadtvierteln an, während ich hier auf dem Sofa sitze. Die Nacht iteriert in nicht wahrnehmbaren Schritten über die Stadt herein, die Hotelzimmertüren sind verschlossen, die Oper beleuchtet – wir haben die ersten Erschütterungen des Dramas mitbekommen, haben einen kurzen Einblick erlebt und ich hoffe, dass ich nicht über irgendwelche Worte oder Ereignisse stolpere, die ich falsch auslege. Ich hoffe, mir kommt keine Hauptrolle in diesem Stück zu.

Sarah hat recht, ich habe Ralisera die Frage mehr diktiert als ihr bei der Formulierung geholfen. Und natürlich bin ich voreingenommen, das dürften die meisten Delegierten auch mitbekommen haben. Ich geh zur Minibar, öffne das zweite Kognakfläschen und fülle es in mein Glas. Wie ich diesen Tag überstanden habe weiß ich nicht. Der Applaus mag aufmunternd gewirkt haben, völlig berechtig war er nicht.

Auf dem langen Holztisch vor mir liegt das gelbe Buch, das ich mir am Sonntag laut vorgelesen habe. Ich schlag es nochmal auf, rieche daran, stell das Glas zur Seite und suche nach ein paar tröstliche Zeilen, während der Kognakgeschmack schwer in meinem Mund liegt. "In dein Verderben! Und zwar rasch!" steht da – na ja. Weiter hinten dann "Ich flattere im Wind meiner Ängste, sehe weder was jetzt ist, noch das Künftige." auch nicht erbaulicher. Weshalb hat sie alle diese Zeilen markiert? Ist sie sowas wie die Regisseurin des Stücks? Weshalb spricht sie so gut Deutsch und woher kommt sie? Und wieder: "Wohin auf Erden trägt es mich Armen? Wohin entfliegt mir die Stimme, verhallend?"

Ich mag es nicht wenn ich mich in ein Drama hineindichte, nur um ein bisschen Selbstmitleid empfinden zu dürfen. Das klingt alles so, als stünde ich am Abgrund und innerhalb der nächsten Stunde würde Blut durch den Spalt meiner Hoteltür auf den Flur sickern. Der Tag ist vorbei und draußen sorgt elektrisches Licht dafür, dass uns die Dunkelheit nicht zuviel Angst einjagt. Ich nehm einen Schluck aus dem Glas und behalt ihn für einige Zeit im Mund. Sarah ist eifersüchtig, das hat heute jeder gesehen und damit hat sie nicht nur sich, sondern auch ihre Anschuldigung gegen mich lächerlich gemacht. Wer mir nochmal vorwirft, voreingenommen zu sein, würde sich damit selbst auf eine Stufe mit einem hysterischen Weib stellen. Wo ist also mein Problem?

Das Problem ist auf Zimmer siebenhundertzweiundvierzig, denke ich, während ich den Kognak runterschlucke. Ich nehm den Plastikschlüssel und geh, das Buch immer noch in der Hand, aus dem Zimmer, den Flur runter und rufe den Aufzug. Welcher Irrtum mich jetzt gerade antreibt weiß ich nicht, wahrscheinlich ist es nur der Alkohol. Der Aufzug kommt, fährt mich einige Stockwerke nach unten und als er im siebten Flur seine Türen öffnet sieht das auch nicht verheißungsvoller als sonst aus. Zimmer 734 bis 758 sind links von mir, den Flur runter, dann nochmal um eine Ecke und da ist 740, 741 – ich bleib vor der nächsten Tür stehen. Ihre Zimmertür sieht aus wie alle anderen auf diesem Flur, wie alle Türen im diesem und allen anderen Hotels der Welt. Und der Flur selbst ist eine genaue Kopie von etwas, von dem es nirgendwo ein Original gibt. Hotelflure kopieren sich nur selbst, Abbilder von Abbildern, Replikation ohne Mutationen, verbergen immerfort andere Menschen in identischen Zimmern und riechen muffig und uninteressant.

Das gelbe Buch hat gewaltig an Gewicht zugelegt, seit ich mein Zimmer verlassen habe. Ich könnte es ihr unter der Tür durchschieben, aber deshalb bin ich nicht hier. Aus einiger Entfernung klingt das kurze Klingeln des ankommenden Aufzugs. Vielleicht ist sie gar nicht auf dem Zimmer. Ich atme tief durch die Nase ein. Es riecht muffig. "Oh well, Mister Chairman" flüstere ich, drehe mich dabei um und geh langsam den Flur zurück. 741, 740, um die Ecke kommt ein Hotelangestellter und grüßt höflich, ich grüße zurück und seh ihm nach. Er bleibt vor ihrer Tür stehen und tut, was ich nicht geschafft habe: er klopft. Langsam greife ich in die rückwärtige Tasche meiner Hose und hole meinen Geldbeutel hervor – ich muss irgendeinen Grund vortäuschen, weshalb ich stehenbleibe und Männer können immer irgendetwas vergessen haben, was in einem Geldbeutel platz fände.

Die Tür geht auf, ich geh um die Ecke um nicht doch noch von ihr gesehen zu werden und habe dann mein feiges Verhalten satt, steck den Geldbeutel wieder in die Tasche und geh zurück zum Aufzug, der diesmal lange auf sich warten lässt. Als er dann endlich klingelt kommt der Hotelangestellte mit einem großen Umschlag, den er vorher noch nicht bei sich hatte, um die Ecke und fragt, ob ich auch nach unten müsste. Nein, nach oben. Er lächelt, lässt mir den Vortritt und ich bedanke mich.

Der Umschlag beschäftigt mich auf dem Rückweg. Wieder in meinem Zimmer werfe ich König Ödipus auf die Ablage, ziehe meine Schuhe aus und vermeide direkte Begegnungen mit dem Spiegel. Gerade als ich wieder nach meinem Glas greifen will klopft es an meiner Tür. Wie lange mein Herz stillsteht weiß ich nicht. Mein Rücken und meine Handflächen werden nass. Der Augenblick, in dem ich mir vorstelle, wer da vor der Tür steht ist gerade lang genug um mich begreifen zu lassen, dass die enttäuschte Hoffnung mich bis in den Schlaf verfolgen wird.

Als ich aufmache steht der Hotelangestellte vor mir, den ich wenige Minuten vorher auf dem siebten Flur gesehen habe. Er erkennt mich und seine Augen werden groß. Sir, sorry Sir, I didn't know that it is you – I" er zögert "had to ask your room number from reception first" stammelt er und hält mir den Umschlag hin, auf dem, mit Füller geschrieben, mein Name steht. Wir sehen uns beide an.

"Is that for me?" frage ich, um irgendwas zu sagen.

"Yes Sir"

"Thank you" ich nehme den Umschlag "thank you very much." Er erwidert etwas, aber da ist die Tür schon fast wieder zu und ich zerr am Umschlag und geh zugleich durch das Zimmer und der Umschlag geht nicht auf und ich zieh fester an der zugeklebten Lasche und die reisst ein und ich schneid mir den Zeigefinger an der scharfen Papierkante blutig und dann ist der Umschlag endlich offen und ein grüner Stofffetzen fällt auf den Boden. Dann noch einer. Ich greife in den Umschlag und ziehe daraus die zerrissenen Reste einer grünen Bluse hervor.

Lange starre ich auf meine Hand, lasse dann den Umschlag und die Fetzen zu Boden fallen und blicke wieder zum Fenster hinaus.

Ich sehe sie vor mir. In dem Moment, in dem sich die Wut nicht mehr zu verstecken braucht, in dem die Zimmertür hinter ihr zufällt und sie schlägt mit den Fäusten gegen die Wand und spürt, dass sie sich an irgendetwas rächen muss, für die Wut über die Fragen zu nutzlosen Eigenwerten und Frequenzabweichungen, diesen Eifersuchtstiraden einer missgünstigen Konkurrentin und die Wut darüber, dass ich nachher nicht mehr mit ihr gesprochen, sie ignoriert und mich mit Andrew in die Bar verzogen habe. Ich sehe sie vor mir – ich höre sie. Sie reisst sich den Stolz mit einem Schrei vom Körper, sie wühlt im Kleiderschrank nach dem Opfer, dass ich gefordert habe und das fast schwarze Rot ihrer Fingernägel zerrt daran bis der Stoff nachgibt und zerreißt und zerstört es bis zur Atemlosigkeit. Und dann kniet sie am Boden und sieht sich an was sie getan hat und weiß, was sie als nächstes tun muss. Langsam steht sie auf, nimmt einen der Umschläge aus dem Schreibset, das das Hotel auf jedem Zimmer zur Verfügung stellt und nachdem sie alles, was einmal ihre Bluse war verpackt hat, klebt sie ihn zu. Sie nimmt das Telefon, wählt die Nummer der Rezeption und als sich am anderen Ende eine Stimme meldet, steht sie bereits wieder gerade und ihre Stimme hat alle Emotionen vergessen.

Sie hat ihren Boten zu mir gesandt und ich habe ihm die Tür geöffnet. Draußen kämpft elektrisches Licht gegen die immer wiederkehrende Nacht. "Wohin auf Erden trägt es mich Armen?"

---

Donnerstag: Berührung

Das Boot hat sich nicht weit von der Küste entfernt und trotzdem ist es kühler geworden und ich bereue es, meine Lederjacke nicht mitgenommen zu haben. Auf dem Deck stehen nur wenige von uns, die meisten sind unten und essen und reden. Social Event nennt sich das, die ganze Gruppe wird an einem Abend vom lokalen Veranstalter des Meetings verköstigt, manchmal kriegt man auch mehr geboten, wie zum Beispiel diese Bootsrundfahrt durch den Hafen von Sydney. Die Skyline zieht beruhigend langsam vorbei.

Der Tag verlief ohne Probleme, wir haben alle Agendapunkte abgearbeitet und für morgen bleibt uns nur noch die Abstimmung. Wenn im ersten Wahlgang keiner der Vorschläge 75 Prozent der Stimmen erhält wird nochmal abgestimmt und wenn dann immer noch keine klare Mehrheit erreicht wurde, reicht im dritten Durchgang die einfache Mehrheit. Die drei Wahlgänge können sich, mit dem Auszählen der Stimmen, über mehr als sechs Stunden ziehen.

Ralisera ist unten, sie hat sich den ganzen Abend mit Andrew unterhalten, worüber weiß ich nicht. Ich habe sie noch nie Lächeln oder Lachen gesehen, denke ich, während Zeitverschiebung und die Ereignisse der letzten Tage auf meinen Nacken drücken. Ich mach die Augen zu und senke meinen Kopf. Die Rundfahrt dauert sicher noch eine Stunde und gerade jetzt werde ich nirgends gebraucht.

Eine fremde Hand liegt auf meinem Oberschenkel. Ich muss eingeschlafen sein. Langsam komme ich zurück, von wo immer ich auch gewesen sein mag, seh die Frauenhand auf meiner Jeans liegen, seh die langen, weiß lackierten Fingernägel und rieche ein Parfüm, das ich kenne. "Sarah," murmle ich "was machst Du denn?"

"Sorry?" sagt sie sanft.

Ich schrecke hoch und seh sie an. "Take your hand away!" Ich zisch sie rauer an als ich es vorhatte, aber es schadet sicher nichts. Sie gehorcht nicht.

"I wanted to apologize –"

"That is appreciated and accepted," ich nehme ihre Hand mit zwei Fingern am Handgelenk und leg sie ihr auf den beigen Stoff ihres Kleides "but it is enough to say it."

"Do you have a problem with me?" Sie spricht immer noch viel zu zärtlich.

"Sarah, I truly have no bad feelings for you – it was all very heated yesterday and"

"I feel cold" sagt sie und rückt noch näher zu mir, als sie es eh schon ist.

"Then go downstairs." Und als sie nicht reagiert, füge ich hinzu "Alone."

Sie lächelt mich an, steht auf und beugt sich zu mir runter. Sie küsst meine Wangen und flüstert mir ins rechte Ohr "You will not get her, you know that – she is playing with you, she only wants to win the vote, capullo", dann geht sie wieder nach unten.

Mir ist kalt, ich reibe mit den Händen über meine Arme und schüttle kurz den Kopf, um die Müdigkeit zu vertreiben. Ralisera steht an der Reling. Sie blickt mich an und hinter ihr tauchen die Muschelkuppeln der Oper auf. Ich muss länger geschlafen haben als ich dachte. Als ich aufstehe kommen mir meine Bewegungen umständlich vor, mein Nacken schmerzt und ich streck meinen Rücken einmal durch, während ich zu ihr gehe und mich neben sie stelle.

"Nachher, wenn wir anlegen, bleibst Du bei mir" sage ich.

"Sie hat Dich berührt" ihre Stimme ist so leise, dass nur ich es hören kann.

"Nein, das hat sie nicht."

"Ich habe es gesehen."

"Nein, sie hat mich angefasst – nicht berührt." Ich sehe auf die Oper, die sich langsam näher schiebt und spüre, dass Ralisera mich von der Seite her anblickt. "Also, bleibst Du nun bei mir, wenn wir ankommen?"

"Ich dachte, Du hättest das nicht als Frage formuliert." Sie geht von der Reling weg und wenig später höre ich trotz des Windes das Geräusch ihrer Schuhe, die die Treppe hinunter gehen. Die Haare auf meinen Armen stellen sich auf und mein Körper schüttelt sich kurz.

"Habe ich auch nicht" sage ich in den Wind. Sarah hat schon wieder recht – ich bin ein Idiot.

Als wir anlegen stehe ich immer noch an der Reling und erst als der größte Teil von uns das Schiff verlassen hat, gehe ich nach unten und über die metallene Brücke zurück ans Land. Andrew fragt mich, ob wir gemeinsam ein Taxi nehmen sollen und ich lehne ab. Er nickt und ich sehe, dass er weiß was los ist – wahrscheinlich wissen es eh alle und die, denen man es erst sagen muss, wird Sarah sicherlich informieren. Sie tut das nicht, um mir zu schaden, sie ist nur eifersüchtig auf diese Frau, die ihr ihre Rolle in der Gruppe genommen hat.

"Kannst Du mit den Schuhen bis zum Hotel laufen?" frage ich sie, als sie leise neben mich tritt.

"Ja."

"Dann lass uns gehen."

Die Straße führt einen Hügel hinauf und an einem Park vorbei. Obwohl es schon spät ist, sind überall Autos und Menschen, wir können nicht nebeneinander gehen und so gehe ich voran. Ein Musikkonservatorium, ein Fotografiemuseum, ein Haus das zu alt wirkt für diesen Kontinent – wir gehen schweigend an allem vorbei und erreichen nach einiger Zeit den langgezogenen Park, an dessem anderen Ende unser Hotel liegt. Auf den Rasenflächen sitzen Gruppen von Jugendlichen zusammen, sie reden und lachen laut und aus ihren Stimmen hört man bis hierher den Alkoholeinfluss. Der Springbrunnen, der am Eingang zu der Alle aus Feigenbäumen steht, wird gerade abgeschaltet, wir sehen die letzten Wasserstrahlen aus den Mäulern der Tierfiguren sprühen und dann schweigt der Brunnen für diese Nacht.

Um in unser Hotel zu kommen, müssen wir durch die Allee und schon als wir eintreten wird es ruhiger. Hier gibt es keine Beleuchtung und wir scheinen die einzigen zu sein, die um diese Zeit diesen Weg nehmen. Nach einigen Schritten schirmen die Bäume die Lichter und dem Lärm der Stadt fast ganz ab. Das Knirschen des Kiesbodens unter unseren Schuhen ist das lauteste Geräusch. Wir gehen weiter. Jeder Schritt trägt uns tiefer in etwas hinein.

"Woher kommst Du?" frage ich sie.

"Ursprünglich aus Rumänien."

"Und weshalb sprichst Du so gut Deutsch?"

"Meine Großmutter war Deutsche, sie hat mit meiner Mutter nur Deutsch gesprochen und ich habe es dann von beiden, von meiner Mutter und meiner Großmutter gelernt. Und einundneunzig ist meine Mutter mit meiner Schwester und mir nach Hannover gegangen."

"Was ist mit Deinem Vater?"

"Der war der Grund, weshalb meine Mutter nach Deutschland ging" sagt sie und es klingt traurig.

Ich sehe zu ihr, aber sie ist kaum zu erkennen. Der Sand knirscht und ihr letzer Satz beschäftigt meine Gedanken – sie suchen nach etwas, das ein Mann tun kann, damit eine Frau mit ihren Kindern über den halben Kontinent vor ihm flieht. Ich halte mich zurück und frage sie nicht weiter – meine Neugierde ist mir selbst zuwider genug, ich muss sie nicht auch noch damit belästigen.

Die Augenblicke reihen sich mit den Schritten aneinander, jeder scheint besser geeignet als der vorherige um stehenzubleiben, sie in die Arme zu nehmen und der Heimlichtuerei ein Ende zu machen. Aber alles scheint blockiert – es gibt kein Schlupfloch zu ihr, keines, bei dem ich mir nicht falsch vorkäme, wenn ich es nähme. In der Dunkelheit kann ich ihre Umrisse kaum erkennen. Ich sehe sie an und es ist, als wären nur ihre Bewegungen sichtbar. Wie ein Teil der Nacht, der sich nicht zeigen will – der nicht berührt werden will. Wie etwas das ich nicht berühren darf.

Meine Gedanken irren umher. Ich seh sie neben mir sitzen, im der Kneipe, vor zwei Tagen, als ich sie am Handgelenk packen wollte, als sie mich auf dem Weg zurück ins Hotel anfassen wollte. Berühren wollte. Und wir haben es beide nicht getan. Anstatt mich zur Rede zu stellen, ihre Wut an mir auszulassen, hat sie mir gestern ihre Bluse gesandt und heute hat Andrew ihr einmal seine Hand an die Schulter gelegt um sie auf etwas aufmerksam zu machen, das draußen am Schiff vorbeizog. Und meine Gedanken rasen – kehren zu dem Blick zurück, den sie mir vom Mikrofon her zuwarf, als ich zum ersten Mal ihren Namen sagte – und wie sie seither alles, was ich ihr gesagt habe, getan hat. Wie sie sich vorhin am Schiff sogar beschwert hat, als ich die Anweisung bei mir zu bleiben in eine Frage umwandelte.

Ich bleibe stehen und spüre, dass sie mich anblickt. Alles ist still. Entlang der Allee stehen links und rechts Bänke, ich deute auf eine und sage langsam "Setz Dich auf die Bank da."

Sie tut was ich ihr sage – geht auf die Bank zu und setzt sich wortlos. Ich gehe zu ihr, bleib vor ihr stehen und sehe durch die Nacht auf sie herab. Das was ich erkennen kann und das was ich über sie weiß überlagert sich. "Leg die Hände neben Dich." Sie nimmt die Hände von ihrem Schooß und legt sie auf die Bank. Beinahe lautlos atmet sie tief aus und kurz darauf spüre ich wie sich die Luft an meinem Gesicht bewegt. Mein Rücken, mein ganzer Körper wird heiß, genau wie gestern, als der Hotelbote an meiner Zimmertür klopfte. Alles ist ineinander verwoben, hat Bedeutung. Alles macht Sinn.

Sie presst ihre Knie aneinander, die Finger halten sich am Holz der Bank fest und dann höre ich sie nochmal ausatmen. "Kann ich –" fängt sie an.

"Nein, sei still." Ein Ruck geht durch ihren Körper, die Schuhe bewegen sich im Sand, sie beugt sich kurz ein Stück vor, dann sitzt sie wieder aufrecht, genau wie zuvor. So bleibt sie einige Zeit bewegungslos, dann beginnen ihre Knie zu zittern und ich weiß, dass das nicht von der Kälte kommt. Langsam öffnet sie sie. "Nein, Ralisera, davon habe ich nichts gesagt." Sie schließt ihre Knie wieder und senkt den Kopf.

Sie tut was ich ihr sage. Meine Worte sind ihr näher, als meine Hand es sein könnte. Ich darf sie nicht berühren. Immer wieder die gleichen drei Gedanken. Ich müsste meinen Arm ein klein wenig ausstrecken, sie mit der Hand an der Schulter berühren und dann gäbe es keine Entfernung mehr zwischen uns. Und ich weiß nicht woher, aber ich verstehe, dass wenn ich sie anfasse, meine Worte die Macht über sie für immer verlieren würden.

Ein Windstoß berührt meinen rechten Arm.

"Steh auf, wir gehen." Ihre Finger lassen die Bank los und sie richtet sich vor mir auf – ihr Gesicht nah vor meinem. Ich dreh mich zur Seite, in Richtung unseres Hotels. "Komm" sage ich und weiß, dass das letze Wort ist, das wir an diesem Abend sprechen. Wir gehen zurück zum Hotel, sie verlässt den Aufzug auf ihrem Stockwerk, dreht sich um und blickt mich an, bis die Türen sich geschlossen haben.

Meine Gedanken denken die ganze Nacht um sie herum, um den Geruch, die Wärme ihres Körpers, ihre Hände und Bewegungen. Nichts ist greifbar, alles ist nur eine Andeutung, eine Prophezeiung, der ich nicht nachgehen darf. Ich darf mich nicht verwirren lassen, sonst wird am Ende alles wertlos.

Die Sonne geht auf und ich habe nicht geschlafen. Es ist Freitag. Um neun Uhr dreißig beginnt die Abstimmung.

---

Freitag: Worte

Nachdem Pekka das Ergebnis des ersten Wahlgangs vorgelesen hatte, stand Sarah auf und verließ über den Seitengang den Raum. Ralisera ging ans Mikrofon, bedankte sich mit gewohnt ernster Mine und Nick stand auf und gratulierte ihr als erster. Dann Michael und dann noch ein Delegierter und noch einer und immer mehr. Jeder im Raum wollte der Dame im roten Kleid die Hand schütteln. Auch Pekka stand auf und ging zu ihr, reichte ihr mit einem breiten Grinsen seine Rechte und sagte etwas, das ich nicht verstand.

Während die anderen Teilnehmer in die letzte Kaffeepause verschwanden kam sie an meinen Tisch, legte die Hände an die Tischkante und sah mich an – zum ersten Mal lächelnd.

"Danke" sagte sie. Ich lächelte zurück. "Hast Du –" sie zögerte "Hast Du eigentlich mein Paket erhalten?"

"Ja, das habe ich. Der Inhalt hat mir so viel besser gefallen als zuvor. Ich habe auch noch etwas für Dich."

"Du hast ein Geschenk für mich?"

"Mehr ein Fundstück." Ich sah ihr an, dass sie nicht wusste, wovon ich sprach. "Nichts großes, nichts, was Du all zusehr vermissen würdest. Ich bin auf Zimmer vierzehn-neunundneunzig und wenn Du willst, dann komm nachher vorbei und ich gebe es Dir."

In ihrem Blick war etwas, das ich nicht kannte. Ich war mir nicht sicher, ob sie enttäuscht darüber war, dass ich ihr die Wahl ließ. "Danke für die Einladung," sagte sie "Du hättest Dich nicht auf ein Geschenk rausreden müssen." Sie nahm die Hände vom Tisch, richtete sich auf.

"Das war keine Ausrede, auf sowas habe ich keine Lust. Aber ich kann es gerne auch anders sagen: wenn Du nur aus Neugierde die sieben Stockwerke hochfährst, dann bleib besser unten."

Den Satz schluckte sie langsam, blickte zu mir runter und schüttelte leicht den Kopf – vielleicht, um nein zu sagen, vielleicht aus Staunen, über die Direktheit. Dann drehte sie sich um und ging aus dem Raum.

Eine halbe Stunde später nahm ich das Mikro und fragte "Any other business?" Niemand meldete sich. "As I see no waving hands, this meeting is closed. I want to thank all delegates for a very successful and co-operative week, the host for perfect organisation and a very nice social event, that we all enjoyed – and special thanks to Pekka for doing all the work that I find too boring to do myself. See you all in Fairfax in March. Have save trips home. Good bye." Eine kurze Runde Applaus und das wars dann wieder.

Wir standen danach in Grüppchen zusammen und redeten darüber, was wir tun würden. Die meisten hatten, so wie ich auch, noch eine Woche Urlaub in Australien geplant. Nick und Andrew wollten mit einem Mietwagen in die Blue Mountains fahren, Michael einen Cousin in Brisbane besuchen und Pekka hatte bereits ein Ticket für eine Zugfahrt nach Perth – er fuhr einmal schnurgerade über den ganzen Kontinent und gestand, dass er sich selbst nicht sicher war, ob das eine gute Idee war, aber immerhin hätte der Zug nicht nur einen Speisewagen sondern sogar eine eigene Bar. Ich sagte, dass ich noch einige Tage in Sidney bleiben und die Dinge auf mich zukommen lassen wollte.

Dann gingen sie, einer nach dem andern. Ich schaltete den Projektor aus, packte den Laptop in meine Tasche und ging aus dem Konferenzraum. Hotelangestellte bauten die Tische ab, auf denen die Woche über Kaffee serviert worden war. Hinter den Aufzügen standen die Plakate eines Pharmakonzerns, der hier eine Schulung abhielt. Ein Mann und zwei Frauen unterhielten sich nahe den Aufzügen – er sagte etwas und die Frauen lachten. Über das Geländer konnte man in die Hotellobby sehen. Eine Schlange hatte sich vor den Anmeldeschaltern gebildet, draußen standen zwei große Busse, die Touristen entluden. Ich nahm den Aufzug in den vierzehnten Stock.

Es ist immer noch früher Nachmittag und ich sitze am Sofa. Vor mir, auf dem Holztisch, liegt das Buch, daneben steht eine Bierfalsche, die ich noch nicht mal geöffnet habe. Durch das Fenster sehe ich seit zwei Stunden nichts, was mich ablenken könnte.

Es klopft. Ich warte einen Augenblick und stehe dann so ruhig wie möglich auf, lege das Buch auf die Ablage, stelle das Bier in den Kühlschrank zurück und atme noch einmal tief durch, während ich zur Tür gehe. Sie steht in ihrem roten Kleid vor mir. An den Füßen trägt sie braune Sandalen und ihre Hände halten sich an ihrer kleinen, schwarzen Handtasche fest. Sie wartet. Ich geh zur Seite, sage "komm rein" und sie geht ganz nah an mir vorbei. Ihre Haare, die Schultern, das Kleid, der Geruch ihres Parfüms – alles kommt in diesen zwei, drei Schritten auf mich zu und nimmt mir das Warten und die Nacht ohne Schlaf ab, löst das Zimmer auf, das Hotel – lässt alles in einem verschwommenen Draußen zurück. Alles außer Ralisera.

"Bleib da stehen" meine Stimme klingt ruhig, wofür sie keinen Grund hat. Sie ist in der Mitte des Zimmers, das Gesicht zum Fenster und als ich sehe, wie sie stehenbleibt, verstehe ich es nochmal, mit ganzer Wucht: sie tut was ich sage.

Langsam gehe ich auf sie zu, betrachte ihren Rücken, mustere sie, bleibe hinter ihre stehen und spür etwas, das ich kaum in mir drin halten kann, das meine Hände auf ihre Hüften legen und sie an mich ziehen will. Das Spiel oder das Schicksal oder wie es auch heißt, liegt nun ganz an mir. An dem was ich sage. Und an dem, was ich nicht tue. Meinen Joker benötige ich nicht mehr.

Ich gehe zur Ablage, nehme das Buch und reiche es ihr. "Das Fundstück." Sie sieht es an, ihre Augen blitzen auf und dann lacht sie.

"Wo hast Du das denn gefunden?"

"An der Hotelrezeption, am Sonntag. Ich habe mir erlaubt, es zu lesen."

Ihre rechte Hand nimmt das Buch und dabei berühren sich beinahe unsere Fingerspitzen. Ohne zu zögern lasse ich König Ödipus los. Sie lächelt noch immer und steckt es in ihre Tasche "Danke. Jetzt verstehe ich ein paar Dinge besser." Ich nehme ihr die Handtasche ab und stell sie auf die Ablage.

"Du wirst tun, was ich sage." Ob sie das selbst bereits verstanden hat oder ob ich es ihr erst sagen musste, weiß ich nicht. Die Häärchen richten sich auf ihren Armen auf, sie sieht mich an. "Es ist nicht wichtig, ob Du verstehst was geschieht – Du wirst tun was ich sage." Sie schließt die Augen, atmet ein. "Und egal was geschieht, Ralisera, ich werde Dich nicht berühren."

Ihre Mundwinkel zucken und dann nickt sie langsam. Nun liegt alles an mir.

---

Samstag: Draußen

Als ich nach zehn Stunden aufwachte schlief sie noch tief. Zwischen unseren Betten lagen die Tagesdecken und Kissen, die wir nicht zum schlafen benötigt hatten. Ich stand auf und ging ins Bad, vorbei an ihrem Kleid, das neben dem Tisch lag. Sie hatte es sich ausgezogen, ganz wie ich es gewollte hatte. Sie hatte stundenlang auf dem Tisch gelegen und was immer ich sagte ging durch ihren Körper – jede Silbe Erschütterung, forderte, verbat, erlaubte, ließ sie atmen und warten und wollen. Ich stand über ihr und beobachtete sie, wie sie sich bewegte, sich berührte, wie sie nichts tat, das ich nicht gesagt hatte. Manchmal war ich ihr mit meinen Händen oder den Lippen so nah, dass fast kein Raum mehr zwischen uns war und ich musste mich losreißen und aus dem Fenster starren, um es auszuhalten. Und immer drängender flüsterte sie, dass ich sie anfassen sollte.

Nachdem sie aufgewacht war ließen wir das Frühstück aufs Zimmer kommen und nach dem zweiten Kaffee telefonierte sie und verschob ihren Rückflug auf das Datum, an dem auch ich nach Deutschland zurückreisen würde. Sie tat das alles ohne meine Aufforderung. Ich saß nur da und beobachtete sie. Urlaub, sagte sie, hätte sie sich nach diesem Sieg ja wohl verdient. Über die Rezeption ließ ich mir die Nummer einer Autovermietung geben und zwei Stunden später verließen wir Sidney in Richtung Norden.

Wir redeten die ganze lange Fahrt über. Sie erzählte von ihrem Vater, der sein Leben lang davon gesprochen hatte, in den sogenannten Westen zu gehen und kurz nach dem Sturz des Regimes hatte er gemeinsam mit einigen entfernten Verwandten seiner Frau tatsächlich den Umzug nach Deutschland in die Wege geleitete. Der Vater sandte seine Familie im Zug in die neue Heimat und nahm selber das Auto mit dem ganzen Gepäck. Wenige Kilometer vor Wien, nach stundenlanger Fahrt und bei schlechtem Wetter, fuhr er in einer Kurve gerade aus. Er kam nie in Deutschland an.

Sie saß neben mir, sah der Landschaft zu und wunderte sich über den Zufall, dass sie hier, in Australien, Andrew getroffen hatte, wo sie doch die Sagenbücher seiner Frau alle gelesen hatte und erzählte von Martins Frau, die am Donnerstag einen Jungen geboren hatte und die ihre beste Freundin war. Dann stellte sie Fragen und bohrte in meiner Vergangenheit herum, kritisierte alles, was ich in meinem Leben falsch gemacht hatte und machte sich mit leisem Spott darüber lustig, dass ich mit dem Linksverkehr nicht zurecht kam. Das Steuer übernahm sie aber trotzdem nicht.

Bei der Autovermietung hatte man uns das Hunter Valley als Ausflugsziel empfohlen, eine der berühmtesten Weingegenden in Australien, wie uns die Dame versicherte. Wir hatten beide noch nie etwas von dieser Gegend gehört und fuhren die ganze Strecke durch New South Wales bis Newcastle, folgten dort den Schildern zur Touristeninformation, wo man uns die Adresse eines Ehepaars gab, das eine Unterkunft zu vermieten hatte. Der alte Mann und seine Frau unterhielten sich mit uns auf ihrer Terrasse in der Sonne und waren beinahe enttäuscht, als wir bereits nach dem zweiten Glas Rotwein, der aus dem Weingut ihres Sohnes stammte, aufbrechen wollten. Sie gaben uns den Schlüssel für die Hütte, wie sie die Unterkunft nannten und erklärten uns, wie wir dorthin kämen.

Wir kamen am frühen Abend an. Die Hütte war ein komfortables und modern eingerichtetes Häuschen auf einem Hügel im Nirgendwo. Solarzellen sorgten für den Strom und aus einer nahe gelegenen Quelle wurde das Wasser gepumpt. Wir würden es lange nicht bemerken, wenn wir die letzten Menschen auf Erden wären.

Nachdem wir uns eingerichtet hatten, legte sie das Buch vor mich hin. "Lies es mir bitte vor" sagte sie und wir setzten uns auf zwei Stühle vor das Haus, ließen die Mücken um eine Stehlampe kreisen und ich las das Drama nochmal. Die Grillen unterlegten die Handlung mit flackerndem Gezirpe.

"Darum blicke man auf jenen Tag, der zuletzt erscheint, und preise keinen, der da sterblich, selig, eh er denn zum Ziel des Lebens durchgedrungen, ohne daß er Schmerz erlitt." Ich schließe das Buch, lege es auf den Tisch neben mir und schalte das Licht aus. Für eine Weile blicken wir beide in die Nacht. Dann stehe ich auf und gehe barfuß auf die dunkle Wiese. "Komm" sage ich – und sie folgt mir.

Es gibt keinen Moment, in dem ich sie nicht berühren möchte. Die Möglichkeit ist immer ganz nah um uns herum, sie lauert im Gras und wartet auf eine Unachtsamkeit, zittert vor Erwartung und auch weil sie ahnt, dass sie vielleicht verliert wenn sie sich erfüllt. Wir schaffen uns die Geschichten selbst und sie werden doch erst sichtbar wenn wir handeln.

Wir gehen nebeneinander den Hügel hinauf während Nick und Andrew wahrscheinlich schon irgendwo in den Bergen sind, in einem Zelt und Nick hat keine Papierservietten zur Hand, also kratzt er seine Gleichungen und Diagramme als Höhlenmalerei in den nächstliegenden Felsen und sie unterhalten sich über die Wunder, wie man sie früher einmal nannte, bevor sie sich uns in einer Sprache aus Zahlen und Symbolen darstellten, durch die wir uns ihnen staunend und langsam nähern dürfen. Und Sarah ist vielleicht bereits wieder in einem Flugzeug und lässt die Enttäuschungen hinter sich, die ihr niemand hat zufügen wollen – die Stewardesse bringt ihr noch ein Glas Rotwein aus ihrer Heimat und sie kommt der Versöhnung zögernd näher, mit mehreren hundert Stundenkilometern. Und Pekka, das weiß ich fast sicher, sitzt an einer Bar und prostet dem vorbeirollenden Buschland zu.

Der Boden ist warm von der tagelangen Sonne und in Griechenland, vor zweitausendfünfhundert Jahren, hörte der junge Ödipus die Worte des Orakels auf den hitzeumflirrten Hügeln von Delphi. Er dachte er verstünde was ihm gesagt wurde und das war sein großartiger Irrtum, der ihm einen Platz in der Sagenwelt zuwies. Er befreite Theben von der rätselmurmelden Sphinx und die dankbaren Bewohner machte ihn zu ihren neuen König. Unter seiner Herrschaft blühte die Stadt und wurde mächtig. Und dann kam halt doch eine Dürrezeit und brachte Zweifel mit sich und aus den Zweifeln keimten Fragen. Am Ende war sich kein Gott gut genug, um Ödipus sein Schicksal zu offenbaren und es waren die Worte eines Hirten, die ihm sein Leben in der schrecklichsten aller Möglichkeiten erklärten. Und Ödipus, obwohl er seine Taten unwissentlich beging, nahm die Strafe an, die er selbst über den zuvor noch unbekannten Verursacher des Unheils verhängt hatte. Er stach sich die Augen aus und irrte fortan durch die Wüste. Theben wurde von seinen streitenden Söhnen zerstört und seine Töchter starben in den Nachwehen des Krieges. Sein ganzes Leben war bestimmt von Worten, Gedanken und Auslegungen, von Prophezeiung, Schicksal und Göttern und irgendwo am anderen Ende der Welt, am anderen Anfang der Zeit, legt sich Ralisera neben mich ins Gras.

Wir liegen inmitten der maßlosen, immer wiederkehrenden Nacht, die sich nicht darum kümmert, wie wir die Tage nennen, die sie für uns verbindet. Meine Augen können das Firmament nicht erfassen und ich erkennen keines der Sternzeichen über mir. Wenn ich lange genug suchen würde, könnte ich möglicherweise den kleinen Galgen ausmachen, an dem Iokaste sich erhängt hat. Sicher ist da oben auch das Eigenwertproblem abgebildet und je länger man blickt, desto mehr muss man acht geben um nicht in all den Geschichten und Konstellationsmöglichkeiten auszurutschen und womöglich – am kurzen Kleid vorbei – in die große Leere zu fallen.

Das Gras riecht schwer nach Sommer, die Grillen steigern sich ins Crescendo hinein und sie bewegt sich unsichtbar in der Nacht neben mir. Dann sehen mich grüne Augen an. Ihre Lippen sind über mir, ganz nah und halten immer noch am Stolz fest. Der Rat der Ältesten von Theben tritt langsam um uns herum im Kreis zusammen und Sophokles stellt eine Frage auf Altgriechisch. Ralisera beugt sich vor und küsst mich. Die ausgemergelten Richterhände der Alten gehen eine nach der anderen in den Nachthimmel – ihre Abstimmung ist einmütg: schuldig. Dunkelrote Finger zerreißen mein T-Shirt mit einem Ruck, unter dem die Sternbilder auseinanderbrechen. Ihre Hände pressen sich auf meinen Körper, zerren an mir. Götterflüche, Verschiebungsvektoren, Unachtsamkeit – das Drama, in dem ich wichtig sein wollte, verzichtet lachend auf sich selbst. Sie beißt in meinen Hals – die von Wahnsinn und Lust berauschten Weiber des Dionysos stürmen Theben und in den brennenden Trümmern der Stadt zerfleischen sie die Ältesten, gurgeln ihr Blut und schreien mit verkrusteten Mündern immer wieder das Urteil in allen Sprachen durch die Ruinen: schuldig, schuldig, endlich endlich schuldig! Sie krallt sich an mir fest, ächzt ihren Atem über mich und die Gedankensphinxen hören auf zu murmeln. Die Bilder ruhen. Meine Hände halten sie an den Hüften, sie streckt sich nach mir. Ich flüstere ihren Namen und spüre meine Stimme durch ihren Körper verhallen.