Flusen

Nasenbluten! denke ich, als ich es warm auf meiner Oberlippe fühle. Wie folgerichtig! Erst mit einer Erkältung ins Flugzeug, dabei ein Druck im Schädel, dass mir das Hirn beim Landeanflug auf Haselnussgröße zusammenpresst wurde und ich leise auf meinem Sitz zu wimmern begann, dann zwei Tage fiebrig in der Konferenz den Hirngespinsten meiner Kollegen zuhören, während ich mich durch hunderte Hektar Regenwald rotzte, die nur für mich in Papiertaschentücher verwandelt worden waren und nun also, mitten in meinem eigenen Vortrag, rächt sich das Geschneuze nicht nur mit einer rotglühenden Nase, die eh schon alle von dem ablenkt, was ich sage, sondern auch noch mittels eines geplatzten Äderchens.

"Tschuldigung" nuschle ich ins Mikro, presse mit den Fingern der linken Hand die Nasenflügel zusammen und haste dann, den Kopf halb im Nacken, an den Stuhlreihen vorbei, auf denen die siebzig Damen und Herren sitzen und mich verwirrt anstarren, stemme mich gegen die schwere Saaltüre und bin auf dem Weg zu den Toiletten. Wo man auch auf der Welt ist, wie sehr man im Moment schwelgt, egal wie viel man getrunken oder anderweitig den Verstand verloren hat, man muss die Koordinaten der nächstgelegen Toilette immer im Hinterkopf haben, das ist eine der Grundregeln zur Daseinserleichterung.

Die Flüche sämtlicher Kulturen seit der Bronzezeit in mir umwälzend torkle ich in den gefliesten Raum. Außer mir ist niemand hier – immerhin. Mit einer Hand öffne ich Krawatte und Hemd, zerre mir beides samt Sakko vom Leib und deponiere es neben dem Mülleimer auf dem Boden. Über das erste Waschbecken gebeugt lasse ich die Nase los. Ein schmatzendes Geräusch entsteht und dann tropft es nicht, es läuft auch nicht – es bricht wie eine biblische Plage über das weiße Becken herein, verfärbt es in die unheilschwangerste aller Farben und während meine Linke Papiertücher aus dem Spender reißt, frage ich mich, Verwünschungen vor mich hin grunzend, womit ich die nächsten Jahre riechen soll.

Die nun folgende Operation ist ein blindes Gestochere in Blut, Rotz und Wut – wenn das Ding schon spinnt, dann mache ich es auch gleich richtig sauber und fahre mit meinem Zeigefinger so lange in meiner Nase herum, bis auf ein paar vorwitziger Haare nichts mehr in ihr ist, was nicht in ihr sein sollte. Vor fünf Minuten habe ich noch über drahtlose Datenkommunikation referiert und jetzt halten mich die Unzulänglichkeiten meines eigenen Körpers gefangen – Ikarus, wärst Du nicht an der Sonne gescheitert, hätten Dich eben Blut und Scheiße auf dem harten Boden aufschlagen lassen, auf dem jeder seinen eigenen Niedergang gestaltet.

Schließlich nehme ich drei Papiertücher, befeuchte sie mit kaltem Wasser und lege sie mir in den Nacken. Der alte Trick meiner Grundschullehrerin, um die Blutung zu stoppen. Der Kragen meines T-Shirts wird feucht, ein paar Rinnsale laufen mir den Rücken hinab – das Wasser ist hier wirklich saukalt. Jetzt nur warten. Stillhalten. Bloß nicht den Kopf zu früh senken, sonst muss das alles wiederholt werden. Mein Kopf, in dem die Erkältung seit Tagen alles dumpf und langsam macht, ist weit nach hinten gekippt und meine Augen schielen auf den Spiegel, wo ein blutverschmiertes Kinn unter einer überdimensionierten Nase zu sehen ist. Warten. Ich betrachte mein Gesicht aus einer Perspektive, in der es wie ein Flugzeug im Landeanflug aussieht und erkenne in mir den Hauptdarsteller des nächsten Zombie-Remakes – verkrampfte Haltung, überstreckter Hals, blutverschmierter Mund und Kinn, in den nach vorne schielenden Augen ein an Hass grenzender Unmut.

Die Tür öffnet sich. Klappernde Schritte kommen herein und ich drehe mich, den Kopf immer noch im Nacken, in Richtung Eingang. Sie zuckt zusammen, ihre Augen werden groß und dann schreit sie kurz auf. Hübsch! denke ich und sage schon wieder "Tschuldigung" und: "Sie haben sich in der Toilettentür geirrt."

"Oh mein Gott" sie lehnt gegen die hellbraun geflieste Wand und hat ihre Hand auf die Brust gelegt, die sich hebt und senkt, hebt und senkt "haben Sie mich erschreckt." Bevor ich mich nochmal entschuldigen kann, fährt sie mich an "aber das hier ist die Damentoilette!" und macht dabei einen Schritt von der Wand weg.

"Ah, darauf habe ich wohl in der Eile nicht geachtet – sehr schön, noch ein Fettnäpfchen. Jedenfalls, ich hoffe es stört Sie nicht, wenn ich hier am Waschbecken warte, bis mein Nasenbluten aufgehört hat" meine Stimme klingt als käme sie von einem Zwerg mit Kehlkopfkrebs.

"Wenn es Sie nicht stört, dass ich auf die Toilette gehe habe ich nichts dagegen." Ist sie gerade einen Schritt näher gekommen? Über meinen Rücken geht ein warmes Ziehen.

"Gerne, das ist ja ihre Toilette" sage ich und sie geht mit eiligen Schritten an mir vorbei.

Umständlich wende ich mich wieder dem Spiegel zu. Ob die Blutung schon aufgehört hat? Meine Gedanken plappern aufgeregt durcheinander. Ich höre wie eine der weißen Türen verriegel wird, dann das Rascheln von Kleidung. Wenn sie zurückkommt sollte ich weg sein, sonst komme ich noch als abartiger Spanner rüber. Jetzt sitzt sie wahrscheinlich schon. Wie konnte ich mich nur in der Tür irren?

Auf ein Mal ist es so still, dass ich nichts mehr denken kann. Der geflieste Raum, das Hotel über uns, die ganze Stadt scheint sich anzuspannen und auf etwas zu warten. Ich senke den Kopf, schaue in den Spiegel – die Luft ist dick und schwer, man kann sie kaum atmen. Ich presse meine Lippen zusammen.

Dann lässt sie es laufen. Meine Augen schließen sich, das immer wieder kurz stockende Plätschern löst die Anspannung auf, die Schwere der Welt rutscht mir den Rücken hinunter und alles, was von mir übrig bleibt, ist ehrfürchtiges Lauschen.

Das Denken setzt erst viel später wieder ein, als sämtliche Instanzen meines Daseins bereits unter der Kontrolle von intellektuell nicht zu beeindruckenden, biochemischen Funktionen sind, die einem vorzeitlichen, stummen Plan gehorchen, für den ich nur ein Stück organische Trägermasse bin.

Ich nehme etwas Seife und beginne mir die Hände zu waschen. Langsam – sehr gründlich und sehr langsam. Die Toilettenspülung rauscht, dann höre ich ihrer Schuhe wieder näherkommen. Als sie sich zwei Waschbecken neben mir im Spiegel betrachtet, wasche ich mir immer noch äußerst konzentriert die Hände.

"Das sieht ja schlimm aus" sagt sie schließlich ohne mich anzusehen und streift sich einige Strähnen aus dem Gesicht – "kann ich Ihnen irgendwie helfen?"

"Danke, nein, es geht schon – ist bald vorbei."

Nachdem sie ihr Gesicht ausführlich im Spiegel betrachtet hat dreht sie sich zu mir und mustert mich unverhohlen, während ich mir endlich die Hände abtrockne. "Na, da klebt doch noch Blut" sagt sie und macht eines der Tücher nass. Ich sehe schweigend dabei zu, wie sie immer näher kommt.

Vorsichtig berührt sie meine Wange mit dem Tuch, tropft Seife aus dem Seifenspender darauf und säubert mich – ich muss stillhalten, kann nicht mal meinen Mund öffnen, lege die Arme auf den Rücken, wo sie sich ebenso deplatziert anfühlen wie überall sonst auch, und versuche mir einzureden, dass ich sie nicht anstarren soll. Eigentlich müsste ich sie fragen, weshalb sie das macht. Nein, eigentlich dürfte das hier gar nicht geschehen, denn eigentlich (eigentlich!) müsste ich einige Meter von hier in einer anderen Realität stehen und über Dinge reden, die vorhin wohl über meine Nase aus mir hinaus geschwemmt wurden und kurz darauf, nach dem Rascheln ihrer Kleidung, in endgültige Vergessenheit gerieten. Was für Dinge? Und eigentlich können solche Hände nicht so sanfte Sorgfalt an einem hilflosen, sich in Damentoiletten verirrenden Zombie walten lassen.

Sie wäscht mein Gesicht und im Hinterkopf, dort wo das Nervensystem seinen Anker hat, wo die Fäden jener Struktur zusammenlaufen, innerhalb der ich mir, wie jeder andere auch, die Welt zusammenreime, dreht eine unsichtbare Hand gelassen die Sicherungen aus ihren Fassungen – die Sicherungen, die die Wirklichkeit davor schützen sollen, durch eine Überspannung abzurauchen.

Sie legt das Tuch zur Seite, betrachtet prüfend mein Kinn, schüttelt den Kopf und sagt "lauter Flusen". Ihre Fingerspitzen gehen, wohl um die Flusen zu entfernen, über meine Wange und die Berührung lässt eine Wolke heißen Wasserdampfes aus meinem Kopf aufsteigen. Irreparable Systemschäden.

Vorsichtig halte ich ihr Handgelenk fest, sehe sie an und sage "entweder Du lässt das jetzt, oder"

"Ich nehm das oder" sagt sie.

Die Füße machen einen Schritt auf sie zu, so dass sie spürt, was sie angerichtet hat. Leicht drückt sie sich dagegen und schickt mir ihr Lächeln in die Augen.