Luna

1 – Namen und Briefe

Ich hatte sie sofort erkannt. Ihr Name stand an der Tafel und als Frau Vees, unsere Englischlehrerin, ihn aussprach, meldete ich mich. Die Vees sah mich verwundert an. Bevor sie etwas sagen konnte, begannen die Jungen zu lachen und kurz darauf kicherten auch die Mädchen.

"Aber das ist ein Mädchenname" sagte sie schließlich.

"Na und?" Ich verstand ihre Verwunderung nicht.

"Du sollst Dir einen Namen aussuchen und Dir dazu einen britischen Brieffreund ausdenken, dem Du dann jede Woche einmal auf Englisch schreibst. Und dessen Antworten an Deine Briefe Du auch selber schreiben wirst. Das verstehst Du doch?" Es war ihr wichtig, dass wir Britannien sagten, wenn wir England meinten.

"Ich dachte, man dürfte sich auch eine Brieffreundin aussuchen."

"Ja –," sie zögerte "aber das war eigentlich für die Mädchen gedacht."

"Darf ich mir die Luna jetzt als Brieffreundin nehmen oder nicht?" Vor mir flüsterte Johannes in Michales Ohr. Beide lachten und sahen sich dabei wieder zu mir um. Die ganze Klasse sah zu mir und freute sich darüber, dass ich mir ein Mädchennamen ausgesucht hatte.

"Denkst Du denn, dass Du einem Mädchen Briefe schreiben kannst?" fragte die Vees weiter. Sie vergaß sogar meinen Namen zu sagen, den sie sonst immer laut und deutlich aussprach. Namen waren anscheinend wichtig für sie und jetzt versäumte sie, mich mit meinem anzureden, nur weil ich, ein Zehnjähriger, Briefe an ein Mädchen schreiben wollte.

"Klar!" Ich schloss halb meine Augen, sah auf die Tafel und sagte "Ich seh sie ganz deutlich vor mir." Das Lachen wurde lauter. Einige der Mädchenstimmen klangen unnötig schrill.

"Es genügt nicht, dass Du Dir sie vorstellst – Du musst Dir auch ausmalen wie sie lebt, was sie den Tag über macht, worüber sie nachdenkt. Du musst Dir ein britisches Mädchen ausdenken. Glaubst Du, dass Du das kannst?"

"Freilich, ich seh sie ja vor mir! Sie ist elf Jahre alt und rennt die meiste Zeit mit einem Strohhut durch die Gegend. Und vorhin hat sie sich den Arm aufgeschürft, da ist sie nämlich von der Schaukel gefallen. Ihr Vater kommt heute Abend aus London zurück und –"

"Ist gut, das reicht. Du bekommst Luna als Brieffreundin." Frau Vees machte ein Häckchen hinter Lunas sauber geschriebenen Namen.

Die Aufregung in der Klasse legte sich nur langsam. Die Jungs reservierten sich Jungennamen, die Mädchen Mädchennamen und die Vees hakte die britischen Kinder, die es gar nicht gab, nacheinander ab.

Es gab keinen Nick, keine Sarah und keinen Keith. Sie waren alle leblose Namen an einer Tafel. Nur Luna gab es. Ich hatte sie sofort erkannt, als ich die Liste durchging, die Frau Vees vor der Stunde an die Innenseite der Tafel geschrieben hatte. Sie klappte die Tafel auf und ich begann zu lesen. Jungen– und Mädchennamen standen durcheinander, wahrscheinlich gerade so, wie sie der Vees in den Sinn gekommen waren. In der dritten Spalte sah ich sie, mit ihrem Strohhut und dem roten Kleid ohne Muster. Sie machte sich zwei Finger an ihrer Zunge nass und rieb die Spucke dann über die Wunde am Ellenbogen. Erst bemerkte sie mich nicht, dann hob sie den Kopf und lächelte mir zu. Sie sagte etwas, aber das konnte ich nicht hören, sie war ja weit weg, in Großbritannien. Ausserdem hätte ich sie eh nicht verstehen können, das war ja erst meine zweite Englischstunde in meinem Leben.

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Nach den ersten kurzen Briefen in holprigem Englisch fand ich heraus, dass Lunas Großmutter ursprünglich aus Deutschland kam. Sie war, wie ich viel später erfuhr, vor dem Krieg nach Großbritannien geflohen. Und sie hatte ihren Kindern und Enkelkindern Deutsch beigebracht. Bereits in der zweiten Woche schrieben Luna und ich uns Briefe in Deutsch, ohne dass Frau Vees etwas davon wusste. Da ich Lunas Antworten alle selbst schrieb, waren wir nicht von der Langsamkeit der Post abhängig. Mit den Monaten wurde auch mein Englisch immer besser. Frau Vees war zufrieden mit den Briefen, die wir uns schrieben und in der Klasse machten sich die Jungs immer seltener darüber lustig, dass ich mir eine Brieffreundin ausgesucht hatte.

Manchmal wurden einige der Briefe im Englischunterricht vorgelesen. Die Mädchen schrieben über Pferde und die ersten coolen Musikvideos, die damals ausgestrahlt wurden und die Jungs über Fussball und Raumschiff Enterprise. Alle Briefe klangen ähnlich und passten sich den Wörtern und der Grammatik an, die wir gerade durchnahmen. Luna und ich versuchten, nicht zu sehr aufzufallen und berichteten von Wochenendausflüge mit unseren Eltern und wohin es im nächsten Urlaub gehen sollte.

Das war alles nur Tarnung. Hinter dem Rücken der Erwachsenen und der Klasse schrieben wir uns über alles, was wir sonst mit niemanden teilten. Meine Abscheu gegenüber den anderen Klassenkameraden, die ersten interessierten Blicke auf Mädchen und das fremdartige Ziehen im Bauch, wenn der Herbst kam – ich konnte für sie alles aufschreiben und wusste, sie verstand mich. Ich las über ihre Verwirrung, als ihre Eltern sich trennten und ihr großer Bruder kurz darauf in ein Internat gesteckt wurde, weil er ständig in Raufereien verwickelt war und die Schule schwänzte.

Nach zwei Jahren wechselte ich die Schule und verlor den Kontakt zu den meisten Kindern aus der ehemaligen Klasse. Luna und ich schrieben uns weiterhin, nunmehr abwechselnd in Deutsch und Englisch. Ich dachte noch oft an die Tafel, an die vielen englischen Namen, die dort mit weißer Kreide geschrieben standen. Einige der Namen bleichten langsam aus, die Brieffreunde aus den ersten Jahren des Englischunterrichts gerieten in Vergessenheit. Lunas Name aber trat in meiner Erinnerung immer deutlicher vor dem grünen Hintergrund der Tafel hervor.

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2 – Reality Check–In

Ich hatte sie nicht gleich erkannt. In einem der Papiere lesend, das ich mir von der Konferenz mitgenommen hatte, rückte ich langsam mit der Menschenschlange in Richtung der Check–In–Schalter vor. Ein Flughafen ist ein seltsamer Ort. Man ist nicht mehr richtig da, von wo man wegfliegt und ganz sicher noch nicht dort, wo man hin will. Von allen seltsamen Flughäfen die ich kannte, war Heathrow immer der schlimmste für mich. Nirgendwo sonst fühlte ich mich so verloren. Der ganze Ort war unorganisiert, quälend groß und auf der Suche nach dem richtigen Terminal verlief ich mich jedesmal.

"Next one please" – die Frau am Schalter 23 winkte mich zu sich. Meinen Riesenkoffer hinter mir herrollend ging ich zu ihr, legte meine Kredikarte auf die kleine Ablage und bat sie gleich als erstes um einen Fensterplatz für den Flug nach Hause. Ich nahm den Koffer und stellte ihn auf das Gepäckband, die Zahlen im Display zählten das Gewicht hoch. Neben mir, am Schalter 22, beschwerte sich ein Ehepaar, dass sie getrennte Sitzplätze bekommen hatten. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, eine vertraute Szene nur noch einmal zu durchleben.

Als ich meinen Blick wieder auf die Frau hinter Schalter 23 richtete, sah ich ihr Namensschild. "L. Dawson" stand da. Ich sah ihren Namen im gleichen Augenblick, in dem sie meinen von der Kreditkarte las. Wir sahen uns an. Das einzige Bild, das ich von ihr in meinem Kopf hatte, war das des Mädchens mit dem Strohhut und dem roten Kleid ohne Muster. Jetzt saß sie in einer dunklen Uniform und mit einer violetten Brille vor mir.

"Luna Dawson?" meine Stimme flackerte, wie meine Hirn und mein Körper. Ich griff nach der Ablage, nur um irgendetwas Wirkliches in der Hand zu halten.

Sie stand auf und blickte mir dabei immer noch in die Augen. Ihre Hände tasteten sich am Schalter entlang. Sie stieg auf das Gepäckband, blieb mit dem Schuh an meinem Koffer hängen und fiel nach vorne. Wie ich so schnell reagieren konnte weiß ich nicht. Meine Hand ließ die Ablage los und ich fing sie mit meinem Arm auf. Das Ehepaar am Schalter 22 verstummte, ebenso wie das Deja–vu.

Es konnte nicht wahr sein. Ich hielt sie in meinem Arm, spürte ihren Körper, ihr Gewicht, sah in ihre Augen, die blickten lebendig zurück und doch konnte es nicht wahr sein. Es gab keine Luna Dawson, schon gar keine, die mich erkennen konnte. Ich hatte alle ihre Briefe selbst geschrieben, sie mir ausgedacht. Sie war so viel schöner, jede ihrer Bewegungen um so vieles besser, als meine Fantasie es in Jahren hatte erahnen können. Sie war warm und nah und schön. Sie war Luna, keine Kindheitsträumerei, sondern eine erwachsene Frau, die ich festhielt, die keinen Zweifel an sich ließ. Das war zu gut um wahr zu sein und wert, sich dafür von der Wirklichkeit zu verabschieden.

Ich fühlte wie ihr Körper sich anspannte als sie einatmete. Sie legte ihre Hand an meine Wange – die Bewegung schaltete meinen Verstand ab und in mir wurde es dunkel. Nur sie war noch da, ging mit der Hand in meinen Nacken und kam mir entgegen – ich beugte mich vor und wir küssten uns.

Als ich den Kopf wieder hob, hörte ich, dass einige Leute hinter uns klatschten. Sie sah mich an. Ob sie ihre Augen während des Kusses geschlossen hatte, wusste ich nicht.

"Du hast mir nicht mehr geschrieben" flüsterte sie und fuhr mit der Hand durch meine Nackenhaare.

"Ich –. Ja, ich weiß."

"Weshalb?"

"Ich hab nicht mehr an Dich geglaubt, Luna." Die Antwort ging über meine Lippen und nahm alle Zweifel mit sich.

"Glaubst Du jetzt, dass es mich gibt?"

"Daran gibt es ja wohl keinen Zweifel mehr" flüsterte ich und wir küssten uns nochmal.

Sie schob mich sanft zurück, kletterte wieder hinter den Schalter und sagte zu ihrer Kollegin, die das Ehepaar bediente, dass sie gehen würde. Wie alle anderen starrte die Kollegin sie nur an und nickte so, als hätte sie niemals zuvor in ihrem Leben genickt und müsste dies erst üben. Ich nahm den Koffer vom Band, Luna tippte kurz auf der Tastatur und kam dann wieder zu mir. Sie führte mich sicher durch den verwirrenden Flughafen.

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Mit neunzehn lernte ich Maria kennen und nach fünf Monaten war sie schwanger. Ich schrieb Luna, dass ich mich einige Zeit nicht melden würde, da ich erst verstehen müsste, was das alles für mich zu bedeuteten hatte. Sie antwortete, dass ich mir soviel Zeit nehmen sollte, wie ich bräuchte. Nach Martins Geburt wollte ich ihr eine von den Karten schicken, auf denen er schlafend abgebildet war, aber ich brachte es nicht fertig, ihren Namen auf den Umschlag zu schreiben. Ich wusste nicht mehr, ob ich ihr das alles mitteilen konnte, ohne sie zu verletzen. Der Umschlag mit der Karte lag jahrelang in meinem Schreibtisch, bis ich ihn schließlich doppelt zerriß und wegwarf.

Das Studium, die Praxissemster, die Arbeit, die Konferenzen, die Streitereien mit Maria und später die Trennung – die Tage griffen ineinander wie die Glieder einer Kette, die einem schwer am Hals hängt und an der man sich entlanghangelt, ohne zu wissen, woran das andere Ende festgemacht ist. Irgendwohin würde das alles schon führen. Die Leute sagen, der Alltag würde einem das Leben schwer machen. Das glaube ich nicht. Es ist nicht der Alltag, es ist das, was man als Wahrheit gelten lässt. Die Steuererklärungen und Autoreparaturen, diese Kuckuckskinder, die sich von der eigenen Aufmerksamkeit durchfüttern lassen.

Trotzdem blieb die Schultafel in meiner Erinnerung. Bis auf Lunas Namen war sie jetzt leer. Die anderen Namen waren verschwunden, hatten sich schlierenfrei aufgelöst. Keines der Kinder erinnerte sich noch an die Briefe, die man an jemanden geschrieben hatte, den es nur in einem selber gab. Nur Luna hatte gewartet.

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3 – Die Kette

Ich erkenne sie nicht mehr. Mein Blick geht über die Terrasse in die Dunkelheit, in die sie gegangen ist. Wann das genau war, weiß ich nicht. Ich sitze hier und sehe ihr nach.

Das Haus auf dem Hügel gehörte ihr. Ihre Eltern waren, genau wie meine, beide gestorben und zu ihrem Bruder hatte sie jeden Kontakt abgebrochen. Im Gegensatz zu mir hatte sie nie geheiratet oder Kinder bekommen. Wir waren alleine im Haus auf den Hügel.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann fällt mir immer der Tag ein, an dem wir die Plätze am Tisch tauschten. Ich sagte ihr beim Frühstück, sie solle sich mal auf meine Seite setzen, durch das Fenster könne man den Sonnenaufgang so schön sehen, wie er den Himmel verfärbt. Zuerste wollte sie das nicht, aber dann fand sie die Farben doch schön. Als ich mich aber auf ihren Platz setzte, sah ich durch das kleine Küchenfenster den Vollmond. Er stand direkt über Lunas Schulter und ich fand ihn noch viel schöner, als den verfärbten Himmel.

Ich hatte endlich eine feste Anstellung bei einer Firma in London, die es mir erlaubte von zu Hause zu arbeiten. Es dauerte einige Jahre, bis ich bemerkte, dass ich ausser Luna lange Zeit niemanden mehr getroffen hatte. Die Versuche mit Martin in Kontakt zu treten hatte ich aufgegeben und von meinen früheren Freunden meldete keiner mehr.

"Ich werde alt," sagte ich einmal beim Abendessen zu Luna, "alt und einsam."

"Unsinn! Du hast doch mich und Du kannst jederzeit hier raus und Leute kennenlernen. Geh doch mal wieder auf eine Konferenz oder schau in der Firma vorbei." Sie war bester Laune.

"Nein, darum geht es nicht. Ich will ja gar niemanden sehen. Ausser Dich." Sie kam zu mir und küsste mich. Mein Blick ging durch das Küchenfenster auf den Mond, der als magere Sichel am Himmel hing.

Kurz nach diesem Gespräch lernte sie Kathy kennen. Kathy arbeitete auch am Flughafen und die beiden freundeten sich an. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich sie jemals kennengelernt habe, ich glaube, sie hat uns einige Male besucht. Nein, sie kam nie hierher, die beiden gingen immer gemeinsam nach der Arbeit weg.

Ich sagte Luna, dass Kathy auch einer der Namen gewesen sei, der auf der Tafel von Frau Vees gestanden hatte, gleich unter ihrem. Wir lachten beide darüber. Sie war so glücklich, dass mir gar nicht auffiel, dass ich sie zu vermissen begann. Sie war ja bei mir, die meiste Zeit.

Einige Monate später kam sie nicht mehr nach Hause.

Die Kette, an der ich mich entlanggehangelt hatte, endet hier, am Haus auf dem Hügel. Sie ist in dieser Neumondnacht verankert, in die ich starre. Es gibt keinen Grund mehr, in das Haus zurückzugehen – Luna ist nicht mehr da. Sie hat sich in die Wahrheiten verstrickt, denen ich durch sie entkommen bin. Sie hat sich an ihrer eigenen Kette von hier fortbewegt und ich weiß nicht, ob sie nochmal wiederkehrt. Alles was ich tun kann ist warten. Vielleicht schreibt sie mir einen Brief.

Diese Nacht endet nicht und ich taste in mir um die Stelle herum, die jetzt wieder leer ist und die sie für einige Jahre ausgefüllt hat. Alle meine Verzweigungen führen immer nur zu ihr. Dort, wo sie war und gelacht hat, ist jetzt nur noch ein kühler Ort, an dem es nicht weiter geht. Egal wie nah ich mich an die Leere heranwage, sie entweicht mir und wird dabei größer. Sie umgibt mich und macht mich zu einer Insel im Nichts.

Ich denke an eine dunkelgrüne Schultafel in einem alten Klassenzimmer. Früher standen darauf Namen, aber sie sind alle ausgegangen. Nur in der Mitte der Tafel wehren sich noch ein paar Kreidestriche gegen das Verblassen. Sie formen einen Namen. Meinen Namen.